Eine Viertelstunde lang darf ich Ihnen jetzt vor allem von Najib erzählen. Von einem Menschen, den ich zufällig kennengelernt habe. Aber was heisst das schon, zufällig? Und was wäre anders, wenn es doch kein Zufall gewesen wäre, der uns – Najib und mich – zusammengebracht hat. Und was heisst zusammen-bringen? Mittlerweile sind wir so weit auseinander, dass das Wort zusammen Sie, die Sie es hören, auf falsche Gedanken bringen könnte. Und so ließe sich weiter fragen: was wären denn die richtigen Gedanken?
Dazu nur so viel: Sie liegen richtig, wenn Sie davon ausgehen, dass es einen Bezug zwischen Najibs Unglück und unserem Glück gibt. Wobei unser Glück natürlich auch relativ ist: wir befinden uns in einem Bundesland, das mit der Landeshauptfrau Mikl-Leitner einen Landeshauptfrau-Stellvertreter Landbauer und einen Landtagspräsidenten Waldhäusl duldet, zwei rechtsextreme Politiker also, die dazu stehen, dass Wikipedia sie eben so beschreibt: als rechtsextreme Politiker. Nicht nur deswegen ließe sich über unser Glück streiten.
Aber ich wollte ja von Najib erzählen. Und auch von Nawid und Jawad und von Ruhla, die allesamt – so weit bin ich sicher – nicht dort wären, wo sie heute sind, wenn wir in einem Land lebten, in dem die Mikl-Leitners und Waldbauer-Landhäuslsnicht geduldet würden in solchen Ämtern.
Najib also! Ich habe im ersten Jahr der Pandemie ein kleines Buch geschrieben: Warum wir Fremde nicht wie Feinde behandeln dürfen. Wer ist Najib?, frage ich da. Und antworte mir selbst:
„Najib ist dieser Eine. Er ist der Flüchtling, den wir retten könnten. Österreich punziert ihn als ‚Illegalen‘, behandelt ihn wie einen Feind, will ihn vertreiben, macht ihn krank, sperrt ihn ein. Mit Achille Mbembe können wir Najib als ‚Unversicherbaren‘ beschreiben, als einen, den die Welt abgeschrieben hat, dessen Leben aufgegeben werden kann.
Getroffen habe ich Najib zum ersten Mal in Paris. Neben einem Zubringer der Stadtautobahn. Inmitten hunderter Flüchtlinge, Afrikaner vor allem und Afghanen. Und zwar vor dem Zelt, das er dort mit seinem Freund Jawad teilte. In einem Facebook-Eintrag habe ich diese Begegnung damals, am 17. Oktober 2019, festgehalten:
„Gerade komme ich von einer kleinen Reise aus Frankreich zurück. Ich habe dort Freunde besucht, die bis vor wenigen Wochen in Wien gelebt haben. Weil sie nicht nach Afghanistan abgeschoben werden wollten, versuchen sie jetzt, in Paris zu überleben. Irgendwo neben der Autobahn. Im Zelt. Im Gatsch. Im Müll. Einer von ihnen hat mir gerade dieses kleine Video nachgeschickt. Als Erinnerung. Er sagt, es seien ‚Tier‘, die sich da zwischen den Zelten bewegen.
Ich präzisiere das gerne: es sind Ratten.“
In der Folge haben wir noch ein paar Nachrichten hin und hergeschickt. Dann höre ich länger nichts mehr von Najib. Am 27. November 2019 sendet er mir eine Sprachnachricht über den Facebook-Messenger:
„Ich bin in Besançon, eine Stadt. Ein Monat schon. Ich weiß nicht, was los. So schwer. So viele Problem. 3 Monate in Paris. Nicht so gut. Österreich hat gesagt, Najib kommt zurück nach Österreich. Ich weiß nicht. Ich bin Dublin.“
Und so kommt es. Najib wird zurück nach Österreich deportiert. Er ist 2020 wieder da, wo er vor über vier Jahren angekommen ist: in Niederösterreich, im Flüchtlingslager Traiskirchen. Dort hatte er am 29. November 2015 „seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz“ gestellt, nachdem er – so der Jargon – „illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist“ war.
Seither setzt Österreich alles daran, Najib das Leben schwer zu machen. Zuletzt will man ihn nun nach Afghanistan abschieben. Der Pandemie sei Dank, dass das bislang nicht gelungen ist. In Freiheit und Würde in Europa zu leben, wäre anstrengend und fordernd für einen wie Najib; in Afghanistan wäre es unter den gegebenen Umständen gar nicht möglich.
Am 5. Mai 2020 meldet er sich per Sprachnachricht: „Hallo Ernest. Wie geht es Dir? Alles gut? Ernest, ich bin jetzt in Polizei, ich bin jetzt hier: in St. Pölten, Deportcenter. Bitte helfen draußen. Bitte. Bitte helfen draußen. Ernst. Ich bin in St. Pölten. Deport Center.“ Wenig später erfahre ich, dass Najib nach Wien überstellt wurde. In das Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände.
Dort wird er 163 Tage lang eingesperrt. 163 Tage in einer Zelle. Selten unterbrochen von einem Hofgang. Unbescholten. Wehrlos. Krank.
„It’s over“, schreibe ich in einem Facebook-Eintrag an diesem 14. Oktober 2020 für alle jene, die mir geholfen haben, Najib zu unterstützen:
„Fünf Monate plus zehn Tage ist Najib im Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände unschuldig eingesessen. Vor zwei Stunden haben wir uns dort voneinander verabschiedet – wie bei all meinen Besuch zuvor durch eine Glasscheibe getrennt.
Morgen wird Najib – wie soll ich sagen – freiwillig nach Afghanistan deportiert. Und zwar auf den Tag genau ein Jahr nachdem ich ihm vor seinem Zelt im Flüchtlingslager in Paris zum ersten Mal zufällig begegnet bin.
Ein Jahr, in dem Najib Europa all zu gut kennengelernt hat. Ein Europa, das sich darauf geeinigt hat, Fremde wie Feinde zu behandeln. Ein Europa, das untergehen wird, wenn es so weiter macht. Good luck, compañero! Wir kämpfen weiter!“
Zwei Tage später, am 16. Oktober 2020, dann ein letzter Facebook-Eintrag:
„Heute früh um 06.00 Uhr hat mich Najib angerufen. Er ist in Kabul gelandet. Sein bescheidenes Hab & Gut (zwei kleine Rucksäcke mit Kleidung und einem Handykabel) ist verloren gegangen. Darin, so vermute ich, wohl auch die Einserpanier: auf seinen Wunsch hin hatten wir ihm in Wien noch neues Gewand & feste Schuhe gekauft. Jetzt besitzt er vermutlich nur mehr das, was er gerade am Leib trägt.“
Seither sind nun zweieinhalb Jahre vergangen. Die letzten Reste seiner mageren Deutsch-Kenntnisse hat Najib verloren. Er schickt lange schon keine Sprachnachrichten mehr. Wir schreiben hin und wieder. Viel Unverständliches, das er mit Hilfe einer Übersetzungs-App generiert. Es ist kompliziert.
Sie könnten schon wieder auf falsche Gedanken kommen, wenn ich einfach erzähle, dass Najib heute in Kabul lebt (!). Sie könnten auf falsche Gedanken kommen, wenn ich erzähle, dass Najib eine Frau gefunden und geheiratet hat (!). Sie könnten auf falsche Gedanken kommen, wenn ich Ihnen sage, dass Najib jüngst Vater geworden ist (!). Sie könnten denken, Ende gut, alles gut.
Nichts ist gut. Najib hat geheiratet, weil er heiraten musste. Weil eine Existenz ohne Familie nicht denkbar ist, wie ihm seine Schwester erklärt hat, nachdem sie ihm seine Frau gesucht hat, um ihn auch vor den Taliban zu schützen.
Najib hat sich verschuldet, weil er heiraten musste. Er musste sich verschulden.
Mit seiner eigenen Familie und mit der seiner Schwester lebt er seither auf zwei Zimmern. Er ist arbeitslos. Er schluckt Medikamente, wenn er sich denn welche leisten hat. Er ist depressiv. Er hat alle Hoffnung verloren.
Najib schreibt, dass er seit über einem Jahr ergebnislos darauf wartet, einen Passantrag abgeben zu dürfen. Dass es keine Arbeit gibt – für ihn nicht, so wie für viele andere auch nicht. Dass er immer wieder versucht, mit dem Nähen von Fahrradsitzüberzügen Geld zu verdienen. Dass das aus diesen oder jenen Gründen meist nicht funktioniert. Dass er an Tagen, an denen er Arbeit hat, 250 Afghani verdient, umgerechnet 2 Euro 50. Dass die Nahrung seiner Tochter, ein Srilak genanntes Milchpulver, 100 Afghani pro Tag kostet. Dass die Tochter im Winter drei Tage im Krankenhaus war und mit Sauerstoff behandelt wurde. Dass es sehr, sehr kalt war. Dass auch er auch sehr krank war und immer wieder krank ist.
Zuletzt, am Montag erst, hat er mir geschrieben: „Hallo Herr Ernst, gute Gesundheit, gute Familie!“, hat er mich begrüßt. Und dann hat er wieder erzählt, was ich längst weiß: dass sein Dasein aussichtslos ist!
„Ich bin krank seit ich aus Österreich gekommen bin, mein Leben ist zerstört, Österreich hat mich 5 Jahre warten lassen und am Ende als ich Depressionen hatte haben sie mich zurückgeschoben. Ich habe seit dem Interview Angst bis jetzt. Zweimal schon sind die Taliban gekommen. Ich habe Angst, Nachrichten zu schreiben. Ich hab Stress, jetzt diese Nachricthen zu schreiben. Wenn ich über mein Leben rede, es ist ein Druck auf mich. Ich kann nicht weitererzählen. Mein Leben ist nicht gut. Wiedersehen, Herr Ernst.“
Was soll ich sagen? Warum und wie sollte ich ihm noch Hoffnung machen?
Kennengelernt habe ich Najib, weil ich Jawad in Paris gesucht hatte. Und in Paris war ich, weil ich Nawid in Frankreich aufgestöbert und schließlich in Varennes-Sur-Allier besucht hatte. Ruhla wiederum hat mir geholfen, Najib zu helfen, als der in Schubhaft war. Mit anderen Worten: ein jeder von ihnen hat sich vor etwa sieben oder acht Jahren als Jugendlicher auf den Weg gemacht.
Ein jeder hat Afghanistan verlassen. Ein jeder hat es irgendwie nach Österreich geschafft. Keiner hat sich etwas zu schulden kommen lassen. Sie haben drei, vier, fünf Jahre lang im absoluten Ungewissen versucht, sich ein Leben in Österreich aufzubauen. Also Deutsch zu lernen, irgendwann arbeiten zu dürfen. Und Träume nicht mehr nur zu träumen.
Nichts da! Österreich hat ihnen dieses Menschenrecht mit unfassbarer Brutalität verwehrt. Man hat sie bedroht, man hat sie eingesperrt, man hat sie vertrieben. (Nur in Klammer: Wie gut man sie hier hätte brauchen können, muss ich Ihnen wohl nicht erzählen. Auch Sie hören ja Tag für Tag die Klage, dass niemand mehr arbeiten will, dass die Gärtner und Gastronomen keine Leute mehr finden. Klammer zu)
Jawad lebt heute in Deutschland, hat nach sieben Jahren Odyssee mittlerweile einen Aufenthaltstitel bekommen, will als Gärtner endlich offiziell und angestellt sein Geld verdienen, hat entsprechende Angebote, wartet aber noch immer auf einen Stempel, der ihm erlaubt, diese anzunehmen. Jawad sagt, die schönste Zeit seines Lebens hätte er in Österreich verbracht. Schule. Freunde. Fußball. Aber dann wollte man ihn abschieben, nach Afghanistan. Und deshalb musste er weiter flüchten, nach Frankreich erst und später, als man ihn dort wieder loshaben wollte nach Deutschland. Das Schlimmste, sagt Jawad über diese Jahre, sei das Warten: ein halbes Leben habe er damit schon verbracht. Wie man wartet? In dem man viel schläft und immer spazieren geht, sagt er.
Nawid lebt, nachdem er in Österreich in Schubhaft war und wieder freigelassen werden musste, in Frankreich. Ich habe ihn damals dort besucht, um ein Buch zu schreiben mit seiner Geschichte. In diesem Buch trifft man auch auf Najib und Jawad – man sieht sie gemeinsam vor ihrem Zelt im Gatsch, man sieht Jawad bei einer Ehrung als Sieger im Integrationsturnier „Von Kabul bis Wien“. Nawid jedenfalls ist in Frankreich inzwischen immerhin so sicher, dass es ihm gelungen ist, auch seine Eltern und Geschwister nach zu holen. So sesshaft, dass er gelegentlich Freunde aus Wien empfängt.
Und schließlich Ruhla. Der hat Freunde in Österreich, die ihn über die Berge nach Südtirol begleitet haben, weil er sonst heute auch in Afghanistan im Elend vegetieren würde. In Italien muss er zwar seit fast zwei Jahren alle paar Monate viel Energie investieren, um wieder jenes Papier gestempelt zu bekommen, das seinen Aufenthalt legalisiert. Ansonsten aber erfreut er sich seiner Karriere. Er ist in einem Luxushotel beschäftigt, in einem der teuersten des Landes. Als Nachtportier hatte man ihm dort am ersten Tag die Schlüssel zu allen Räumlichkeiten des Hauses in die Hand gedrückt. Nach wenigen Wochen schon hat man ihn dann auch tagsüber als Kellner beschäftigt. Mit anderen Worten: man hat ihm vertraut, hat ihm Chancen gegeben. Und Ruhla hat sie genutzt.
Wie es seinem kleinen Bruder heute geht, der alleine nach Istanbul und nach leidvollen Jahren dort über das Mittelmeer nach Europa gekommen ist, erzähle ich vielleicht ein anderes Mal. 13 von 15 Minuten sind nämlich jetzt um.
Zwei Minuten bleiben also. Dass das offizielle Österreich, dass die Politik sich im Umgang mit geflüchteten Menschen nicht mit Ruhm bekleckert sondern im Gegenteil ganz besonders garstig ist, kann niemanden überraschen. Schließlich duldet dieses Land die Mikl-Leitners, die Landbauers, die Waldhäusls in ihren Ämtern. Damit müssen wir also keine Zeit verschwenden.
Aber, was mir noch wichtig ist zu sagen: Najib, Jawad, Nawid, Ruhla – sind meine Freunde! Und diese Freunde wurden von den Mikl-Leitners und den Landbauer-Waldhäusls und deren Freund:innen aus diesem Land vertrieben.
Eine simple Tatsache, die uns, also meine Freunde und mich, von den Mikl-Leitners und den Landbauer-Waldhäusls trennt, ist eine Erkenntnis, die sich in drei Worten fassen lässt: niemand ist autochthon! Wir wissen, dass wir alle nur vorübergehend auf unserer Erde sind, dass wir alle Gäste auf dieser Welt sind und immer und überall schon jemand vor uns da war.
Wir wissen, dass Nationalstaaten kein Naturprodukt, Grenzen nicht ewig und Zäune nicht unüberwindbar sind. Wir wissen, dass demokratisch verfasste Staaten auf jene Bürger- und Menschenrechte gründen, die sie den Migranten und Flüchtlingen verweigern.
Wir wissen, dass dieser Widerspruch zwischen der staatlichen Souveränität einerseits und der Verpflichtung zu den Menschenrechten andererseits auf Dauer nicht haltbar ist. Wir wissen, dass neue Freundschaften, neue Modelle der Gastfreundschaft uns helfen, ein gutes Leben für alle möglich zu machen.
Gerne würde ich mit Ihnen genau darüber noch sprechen. Die italienische Philsophin Donatella di Cesare öffnet uns mit ihrer Konzeption der „ansässigen Fremden“ einen spannenden Blick in eine solche Zukunft der Gastfreundschaft wenn sie schreibt: „Gemäß der politischen Verfassung der Thora sind alle Bürger Fremde, und alle Einwohner sind Gäste/Gastgeber.“ In jedem Migranten sei die Figur des „ansässigen Fremden“ heute schon zu erkennen.
Und damit zum Schluss: Najib und meine geflüchteten, migrierenden, umherirrenden Freunde sind deshalb eine Provokation für die Mikl-Leitners und die Landbauer-Waldhäusls. Sie führen ihnen nämlich vor Augen, dass mit Blut und Boden keine Zukunft mehr zu machen ist.