Ich sammle Geschichten. Geschichten von Menschen. Lebensgeschichten. Autobiografische Skizzen. Material, das davon erzählt, wie sich die eine oder der andere im Leben, in seiner Umgebung, in unserer Welt zurechtfindet. Davon, wie junge Menschen Diversität erleben, wie ältere Solidarität und Respekt erfahren oder vermissen. Geschichten also, die Vergangenes mit Blick auf Zukünftiges in der Gegenwart verorten. Geschichten der Gegenwart eben.
Das ist eine schöne und große Aufgabe. Verantwortungvoll. Kreativ. Und komplex obendrein. Zumal es ja längst nicht das Einzige ist, was ich tue. Ich sammle Geschichten, ja. Aber ich mache auch den Abwasch, gehe zur Post und zum Steuerberater. Ich schreibe. Ich verlege. Ich publiziere. Ich veranstalte. Ich produziere. Ich archiviere. Ich nehme teil. Ich reise an. Ich bringe ein. Ich teile aus. Kurz: ich betreibe einen Kulturbetrieb, das Blinklicht Media Lab. (Einen Kulturbetrieb, um auch das zu erwähnen, der im Zuge der Pandemie seine Mitarbeiter und sein Zentrum verloren hat.) Ich betreibe einen Kulturbetrieb, dessen Werke irgendwo im Spannungsfeld von Kunst und Kultur, Bildung und Migration, Wirtschaft und Politik zu verorten sind und schlecht in eine Schublade passen.
Aber gut: Von Odo Marquart wissen wir ja, dass Leben – und damit auch Kulturleben – dort stattfindet, wo etwas dazwischen kommt. Wir Menschen seien stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. Wir seien also immer unsere Geschichten und unsere Geschichten sind immer Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. Wir sind also nicht bloß Akteure sondern haben es immer mit Kontingenzen zu tun, mit Widerfahrnissen. Und damit wir auch wirklich verstehen, was er meint, ruft uns Marquard noch Odysseus und das Rotkäppchen ins Gedächtnis: Wäre jener ohne Zwischenfälle schnell nach Hause gekommen oder hätte jenes die Großmutter wolflos besucht – so wären das eigentlich keine Geschichten gewesen.
In diesem Sinn bedeutet etwas mit Kultur machen, dann auch, den Wölfen ins Auge zu schauen, sich solchen Widerfahrnissen gegenüber zu sehen, also mühsam Dokumente zu generieren, Genehmigungen und Bestätigungen einzuholen, Integritäts- und Legalitätsklauseln zu studieren oder auch hin und wieder Stempelmarken zu kleben, um irgendwann hernach vielleicht Kultur schaffen zu können.
Um das an einem aktuellen Beispiel konkret zu machen:
Mein Plan: ein in Eigeninitiative entwickeltes und einer Landeshauptstadt zur partnerschaftlichen Umsetzung vorgeschlagenes Projekt der Realisierung näher zu bringen.
Das Widerfahrnis: ich muss mich erst einmal als „Auftragnehmer“ würdig erweisen, muss also einen Schippel weiterer Vorleistungen erbringen. Und damit ich auch ja nichts vergesse, wird mir zu diesem Behufe beim Termin mit der zuständigen Abteilung ein Din-A-4-Blatt überreicht.
Titel: LISTE DER FÜR DIE EIGNUNGSPRÜFUNG ERFORDERLICHEN NACHWEISE.
Demzufolge habe ich ein Dutzend Dokumente beizubringen, bevor überhaupt an weiterführende Gespräche über Inhalte, Strukturen oder Finanzierung des Projekts zu denken wäre. Und zwar:
1. Firmenbuchauszug
2. Gewerbeschein
3. Die letztgültige Kontobestätigung bzw. Unbedenklichkeitsbescheinigung des zuständigen Sozialversicherungsträgers (nicht älter als 6 Monate)
4. Die letztgültige Rückstandbescheinigung gemäß § 229a der Bundesabgabenordnung (nicht älter als 6 Monate).
5. Unbedenklichkeitsbescheinigung der Stadthauptkasse
6. Strafregisterauszug
7. Verbandsregisterauszug Wirtschafts- & Korruptionsstaatsanwaltschaft) Kostenpunkt: € 63,00
8. Finanznachweise – vulgo: Bonitätsauskunft
9. Auszug aus der Insolvenzdatei
10. Entscheidungen des Kartellgerichts / Screenshot
11. Angebotsformblatt
12. Integritäts- und Legalitätsklausel
Soviel in aller Kürze zu den Widerfahrnissen, zu den Wölfen, die einem beim Kulturschaffen vom geplanten Weg abbringen können.
Jetzt noch eine Anekdote zum Thema Kulturerbe:
Der Bund, so war vergangenen November den Zeitungen zu entnehmen, stelle eine neue Förderschiene „kultur digital“ vor und halte 15 Millionen Euro für Digitalisierung im Kulturbereich bereit. Diese „Digitalisierungsoffensive Kulturerbe“ fördere die digitale Transformation des Kunst- und Kultursektors. Der Schwerpunkt liege auf der digitalen Sicherung von Sammlungsobjekten bzw. im Aufbau von Online-Sammlungen.
Mehr habe ich nicht gebraucht: seit Jahren überlege ich, wie unsere „Archiv und Geschichten der Gegenwart“ genannte Sammlung von mittlerweile etwa 5.000 handschriftlich verfassten autobiografischen Skizzen dereinst digital zu sichern und damit auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. In diesem Kontext relevant ist auch die Frage, wie so ein Schritt zu finanzieren wäre. Und nun dies: „Ziel des Förderproramms ist, das kulturelle Erbe Österreichs mit Hilfe digitaler Technologie“ zu sichern und noch besser nutzbar zu machen. 85% Förderquote, 15% Eigenleistung. Bingo! Denke ich mir.
Ich beschreibe also ausführlich die „kulturelle Bedeutung“ meines Betriebes – anforderungsgemäß sowohl im regionalen als auch im überregionalen Kontext sowie „in der österreichischn Kulturlandschaft“. Ich checke mein Vorhaben auf „die Grundwerte des Fairness-Codex (Respekt, Nachhaltigkeit, Vielfalt, Transparenz)“. Ich kümmere mich um „equal pay and opportunities“. Ich kalkuliere jeden Posten auf Basis „Fair Pay“ und überlege insgeheim, wie ich die 15% Eigenleistung unauffällig durch Selbausbeutung einbringen kann.
Gute zwei Wochen investiere ich intensiv in die Ausarbeitung des Antrags. Ich telefoniere, ich recherchiere, ich lerne, ich stecke ein beträchtliches Stück Zeit in dieses Projekt – wie immer gratis, auf eigene Kosten und eigenes Risiko!
Und was kommt nach drei Monaten zurück: eine schnöde eMail, im Anhang ein pdf: „Nach eingehender Prüfung darf Ihnen mitgeteilt werden, dass das Projekt leider nicht für eine Förderung im Rahmen der Ausschreibung ‚Kulturerbe digital‘ empfohlen wurde.“
Keine Begründung, kein Argument, nichts Nachvollziehbares. Ich erlaube mir, per Mail nachzufragen und werde nun zwar telefonisch beauskunftet – aber immer mit dem deutlichen Hinweis, schriftlich mache man diesfalls gar nichts. Alle Dokumente zu diesem Fall würden veraktet und seien hernach exklusiv für Kontrollorgane einsehbar – für die Förderkontrolle, für die Buchhaltung, für den Rechnungshof. Und, nein, es sei auch nicht möglich, die namentliche Zusammensetzung der Jury öffentlich zu machen. Nein, auch die Liste der geförderten bzw der abgelehnten Projekte sei nicht öffentlich einsehbar. Warum? Aus datenrechtlichen Gründen!
Transparenz? Schmanzparenz!
Dürfte ich dann bitte fernmündlich den Grund der Ablehnung erfahren: Klar, das Projekt hat in der Bewertung der Jury nicht die nötige Punktezahl erreicht. Warum? Ganz wesentlich sei dabei der Umstand, dass es sich bei unserem Archiv um „Erzeugnisse der Gegenwartskultur“ handle und in Hinblick auf deren historischen Wert „nicht ersichtlich ist, warum man das jetzt fördern sollte: das Projekt könnte auf die nächsten 100 Jahre spannend sein, aber derzeit sieht die Jury keine Dringlichkeit.“ Zumal beim Begriff Kulturerbe „ja immer auch der restauratorische Hintergrundgedanke wesentlich“ sei, wie mir mitgeteilt wird: Gefördert würden hauptsächlich historische Sammlungen, solche also, bei denen etwa verwitterungsbedingt Gefahr droht und daher Jetztzustände festzuhalten sind.
Wumm! Davon war in der Ausschreibung nun wirklich nicht die Rede!
Aber bitte: was lerne ICH eigentlich aus diesen Anekdoten?
1. Kulturerbe ist insbesondere das, was im Idealfall schon ein bissl kaputt und mit viel Geld spektakulär zu retten ist (Stichwort: Großmuseendenken).
2. Wo das Digitalisieren bereits als Strategie durchgeht, hat Kulturpolitik ihren Namen nicht verdient.
3. Kulturarbeit sieht sich trotz gegenteiliger Behauptungen immer wieder mit einem dichten Schleier der Intransparenz konfrontiert.
4. Das Verhältnis zwischen Kulturarbeit und Kulturpolitik ist bei aller Differenzierung massiv von Schubladendenken getrübt.
5. Die immer weitere Ausdifferenzierung von Förderkriterien führt zu weiteren Ausschlüssen und zu einigem Blabla (Fairness-Bekenntnisse etc).
Und schließlich 6.:
Eine Kulturpolitik, die die Einstellung der ältesten Zeitung der Welt zur strategischen Großtat umdeutet;
eine Kulturpolitik, die keine belastbare Position zum Leiden und Sterben an den europäischen Außengrenzen und im Mittelmeer formulieren kann;
eine Kulturpolitik, die nicht engagiert und massiv auf das Gegenwart genannte Desaster (Klimakatastrophe, Pandemie, Krieg) reagiert;
eine solche Kulturpolitik wird – so steht zu befürchten – auch nach diesem Mai fest im Gestern verhaftet bleiben, also ihrer Erneuerung noch eine Weile harren müssen.