Tag für Tag verschwinden Menschen aus unserer Mitte. Menschen, die ein paar Jahre lang versucht haben, in Österreich ein Leben in Würde und Sicherheit zu führen, werden in Schubhaft gesperrt und abgeschoben – sogar nach Afghanistan, obwohl dort Krieg und Gewalt herrschen. Um diesem Schicksal zu entgehen, sehen sich Menschen nun gezwungen, aus Österreich weiter in andere Länder zu flüchten, vor allem nach Frankreich und Italien. Nawid ist einer dieser immer weiter Vertriebenen, ein Umherirrender.
Als Afghane ist er vor 22 Jahren mit dem Kainsmal des „Unversicherbaren“ zur Welt gekommen, wie Achille Mbembe das nennt. An Europas Grenzen, so der aus Kamerun stammende Politikwissenschaftler und Historiker, werde nämlich unterschieden „zwischen einem Leben, das es wert ist, versichert zu werden, und dem Leben (…), das aufgegeben werden kann oder nutzlos ist“. Während uns, den Versicherbaren, die Welt offensteht und ein kosmopolitisches Leben eine realistische Option ist, müssen sie, die Unversicherbaren, in dieser todbringenden Logik eben dort „bleiben, wo sie sind“.
Indem dieses Buch nicht nur Nawids Geschichte sondern auch die Geschichten von jenen Freund*innen erzählt, die er in Österreich zurücklassen musste, ist es als hochaktueller Beitrag zur Geschichte der Gegenwart zu lesen.
Aus dem Buch:
Wolfgang, 53: Im Vielleicht-Land
Ich kenne Nawid nicht. Und dennoch kenne ich seine Geschichte. Nicht jene seiner Kindheit oder die seiner Jugend. Ich weiß nichts über sein Leben in Afghanistan oder über seinen Grund zu fliehen. Ich habe keine Ahnung von den Strapazen der Flucht, der Gefahr und Bedrohung, die er auf sich genommen hat, um hierherzukommen. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, was er hier in Österreich erlebt hat.
Ich engagiere mich seit 2015 freiwillig in der Flüchtlingshilfe und habe dutzende Asylwerber wie Nawid kennengelernt. Sie alle sind mit viel Hoffnung gekommen, nun endlich ein Leben in Frieden zu beginnen. Vielen war der Ehrgeiz ins Gesicht geschrieben, und die meisten konnten es kaum erwarten, „das Verfahren“ hinter sich zu bringen und ihr Leben in Österreich aufzubauen. Aber Österreich hat sich sehr schnell als ein „Vielleicht-Land“ herausgestellt. Vielleicht gibt es einen Deutschkurs, vielleicht wird man mehrmals quer durch Österreich verlegt, vielleicht kommt man in eine Stadt, wo man Asylwerbern offen gegenübersteht, vielleicht findet man rasch Anschluss und Freunde und vielleicht geht das Verfahren gut aus. Für viele blieb diese Hoffnung auf einen vielleicht positiven Ausgang ein Wunsch. Denn die Ungewissheit des Vielleicht hat sich in den Asylverfahren fortgesetzt.
Es blieb ungewiss, ob man einem/einer objektiv arbeitenden BFA-Mitarbeiter*in oder einem/einer überforderten Referent*in gegenübersaß, ob der/die Übersetzer*in der deutschen Sprache überhaupt mächtig war. Man hatte keinen Einfluss darauf, ob die Zuweisung zu einer engagierten Rechtsberatung oder zu einer Dienst-nach-Vorschrift-Organisation erfolgte. Auch im Beschwerdeverfahren vor Gericht geht die Spruchpraxis der Richter so weit auseinander, dass selbst erfahrene Fremdenrechtsjuristen die Asyl- und Schutzgründe vorab nur mit einem „Vielleicht reicht es“ bewerten können. Das Vielleicht spiegelte sich in der Lotterie der Asylverfahren.
All diese Ungewissheiten trotz Menschrechtskonvention, Verfassung und Gesetzen. All diese Unklarheiten angesichts der sich offensichtlich verschlechternden Sicherheitslage in den meisten Herkunftsländern. All das vor dem Hintergrund einer medial gehypten Angst vor allem Fremden. Nur die Politik erscheint in ihrer Negativität eindeutig – trotz Menschrechtskonvention, Verfassung und Gesetze.
Nawid war nur wenige Jahre hier in Österreich. Seine offizielle Geschichte steht in nur wenigen Dokumenten. Es ist wahrscheinlich, dass dieser offizielle Bericht seines Lebens, protokollarisch gekürzt, nur wenige hundert Wörter umfasst. Er wird auf jeden Fall die Wut und das Gefühl der Ungerechtigkeit nicht wiedergeben. Er wird das Unverständnis über die Un- und Halbwahrheiten der Gutachten und Länderberichte nicht ausdrücken. Er wird den Verlust der Achtung vor einem den Menschenrechten verpflichteten Europa nicht darstellen. Nawids Erlebnisse werden sein Bild von Österreich und Europa verändert haben. Sie haben auf jeden Fall mein Bild von Österreich und Europa verändert.
Es braucht daher die Dokumentation des Umgangs Österreichs mit Verfolgten. Es ist so wichtig, Geschichten wie jene von Nawid zu erzählen, denn nur sie sind Gegenpole zur amtlichen Lesart.
Verfasst im Oktober 2019.