„Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden, wenn es keine Anerkennung für jene Initiativen gibt, die abseits des Scheinwerferlichts stattfinden“, schreibt der französische Historiker Pierre Rosanvallon in seinem Manifest „Le Parlament des Invisibles“. In deutscher Übersetzung erscheint „Das Parlament der Unsichtbaren“ in der edition import/export. Und zwar jetzt. Warum wir das publizieren? Das steht in meinem Nachwort. Und das finden Sie zur Einstimmung gleich einmal hier unten.
Präsentation & Diskussion am 12. Oktober 2015
um 19.00 in der Hauptbücherei Wien (Urban Loritz Platz)
Mit Pierre Rosanvallon, Dirk Rupnow, Robert Streibel u.a.
YOU ARE WELCOME!
Ein Aufruf: Erzählen Sie Ihre Geschichten!
Von Ernst Schmiederer
Wohin man auch schaut, der Riss klafft Tag für Tag weiter auf. Was die einen Politik nennen, verstehen die anderen als Pfusch. Wo jene Sachzwänge jonglieren, schütteln diese die Köpfe. Wird hier eine Entscheidung als alternativlos beschrieben, kommt dies dort als Floskel an, als Beleg für den Mangel an Gestaltungswillen. Einkommen, Besitz und Steuerlasten sind so ungleich verteilt wie nie zuvor in unserer Lebenszeit. Ökonomen und Soziologen, Politologen und Historiker beschreiben unsere europäischen Demokratien als tief gespalten. Der Traum von einer gerechten Gesellschaft sei ausgeträumt, konstatiert etwa Heinz Bude – und zwar „nicht nur für jene, die schon immer vom sozialen Abstieg bedroht waren“, wie er sein 2008 erschienenes Buch über „Die Ausgeschlossenen“ auf den Punkt brachte: „Die Ausgeschlossenen von heute sind die Armen von morgen. Das betrifft zuerst die Gruppe der ausgegrenzten Jugendlichen von den Haupt- und Sonderschulen, die keinen Sinn in den Anstrengung für eine Auslese sehen, bei der sie doch nur den Kürzeren ziehen.“
Nicht zuletzt dieses Zitat hat uns im Blinklicht Media Lab davon überzeugt, in sieben oberösterreichischen Produktionsschulen solche Ausgeschlossenen zu Wort kommen zu lassen: 130 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die mangels Ausbildungs- oder Arbeitsplatz in diesen Einrichtungen motiviert, ausgebildet und auf den Eintritt in den sich hoffentlich für sie öffnenden Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen. In enger Kooperation mit der AK Oberösterreich entstand aus den dort gesammelten Texten das erste Buch („WE ARE FROM AUSTRIA. Berichte aus Oberösterreich“, 2012) einer mittlerweile auf neun Bände angewachsenen Reihe: WIR. BERICHTE AUS DEM NEUEN OE.
„Ich habe drei Geschwister“, schreibt die 17-jährige Sinem dort: „Ich bin in Wels geboren, und meine Eltern sind in der Türkei geboren. Mein Vater ist geschieden von meiner Mutter, seit fast neun Jahren schon. Ich pass auf meinen Vater und meine zwei Brüder auf. Mein Vater arbeitet, mein 18-jähriger Bruder sucht einen Job und mein kleiner Bruder geht in die Schule. Meine Mutter sehe ich seit Jahren nicht mehr. Nach der Hauptschule habe ich als Friseurin gearbeitet. Ich hab aufgehört, weil die sechs Monate meinen Lohn nicht gezahlt haben.“ Schon diese wenigen Sätze skizzieren eine Lebensgeschichte, die sich als Aufreihung zeittypischer Referenzpunkte lesen lässt: innerfamiliäre Hürden, gesellschafts- und bildungspolitische Problemzonen, Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen.
In all ihrer Vielfalt haben die bislang gesammelten 2.000 Berichte – darunter nicht wenige von Jugendlichen, die (noch) keinerlei Ausbildung abgeschlossen und schon Sorgepflichten für eigene Kinder haben – jedenfalls einen gemeinsamen Nenner: sie konzentrieren sich auf das Jetzt. Es sind Momentaufnahmen, akute Aufzeichnungen, die gerade tief genug aus der Vergangenheit schöpfen, um ein Heute so dicht zu beschreiben, dass eine Ahnung davon entsteht, wie das Morgen aussehen könnte. Und darin liegt wohl ein potentieller Mehrwert solcher Berichte: Indem Menschen sich Gehör verschaffen, indem sie etwas zu sagen (zu schreiben) haben, das andere hören (lesen) können, mischen sie mit. Sie gestalten also nicht allein ihre „Identität“, sondern auch ein gemeinsames Projekt: das Jetzt, die Gegenwart, unsere Gesellschaft.
Es ist somit kein Zufall, dass ich Pierre Rosanvallons Manifest „Le Parlement des Invisibles“ unbedingt in einer deutschen Übersetzung sehen wollte. Aus dem Radio („Ö1 gehört gehört“) hatte ich von seiner Unternehmung „Raconter la vie“ erfahren und umgehend das erste halbe Dutzend der in diesem Rahmen entstandenen Bücher bestellt. Trotz sehr rudimentärer Französisch-Kenntnisse war schnell klar: da tut einer, was getan werden muss. Da lässt einer Menschen zu Wort kommen, lässt sie eben Das Leben erzählen, weil er einen groben Missstand beheben will: „Es untergräbt die Demokratie, wenn die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben, die ganz gewöhnlichen Existenzen vernachlässigt und die scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden, wenn es keine Anerkennung für jene Initiativen gibt, die abseits des Scheinwerferlichts stattfinden. Die Lage ist alarmierend, denn auf dem Spiel steht sowohl die Würde der Individuen als auch die Lebendigkeit der Demokratie. (…) Denn ein Leben, das im Dunkeln bleibt, ist ein Leben, das nicht existiert, ein Leben, das nicht zählt. Repräsentiert zu sein hingegen bedeutet – im wörtlichen Sinn – den anderen präsent gemacht zu werden.“
Pierre Rosanvallon hat schon sein Werk über „Die Gesellschaft der Gleichen“ (2010) mit einem Satz begonnen, der auch als Programm für das nun vorliegende Buch zu verstehen ist: „Als System gedeiht die Demokratie gerade in dem Augenblick, da es mit ihr als Gesellschaftsform bergab geht.“ Er beschrieb jenen „Riss, der durch die Demokratie geht“ und stellte nüchtern fest, dass dieser „die größten Gefahren“ unserer Zeit berge: „Sollte er sich vergrößern, könnte das demokratische System selbst am Ende ins Wanken geraten.“ Zudem warnte Rosanvallon damals schon: „Ungleichheiten, das ist der springende Punkt dabei, treffen nicht nur die am schlechtesten Gestellten, sie schaden uns allen.“
Das nun in deutscher Sprache vorliegende Manifest kann somit als nachgereichte Handlungsanleitung verstanden werden: „Wenn man den Menschen das Wort gibt, sie sichtbar macht, hilft man ihnen in Wahrheit dabei, sich zu mobilisieren, der bestehenden Ordnung zu trotzen und ihr Leben besser zu führen. Man ermächtigt sie auch, ihr Leben in einer sinnstiftenden Erzählung zusammenzufassen und sich so in eine kollektive Geschichte einzufügen.“
Die Qualität einer Demokratie, argumentiert er im vorliegenden Buch, „hängt auch genau davon ab, dass die gelebten Erfahrungen der Bürger im öffentlichen Leben stets präsent sind und ihre Rechte eingemahnt werden. Demokratie bedeutet nicht nur kollektive Macht oder öffentliche Beschlussfassung, Demokratie bedeutet auch Aufmerksamkeit für alle, ausdrückliche Berücksichtigung aller Verhältnisse. Das ist entscheidend.“
Vor diesem Hintergrund kann die Initiative zur Übersetzung dieses Manifests gerne als Einladung zum Handeln verstanden werden. Versuchen wir es gemeinsam. Lassen Sie uns herausfinden, was ein Parlament der Unsichtbaren zur Verbesserung der Demokratie in unseren Breiten beitragen kann. Erzählen Sie Ihre Geschichten. Überbrücken Sie die Spaltung. Stärken Sie die Demokratie. Besuchen Sie uns: am 12. Oktober 2015 in der Hauptbücherei.
Oder später dann auf leisestimmen.org