Dass wir uns heute (am 10. September 2019) hier treffen, verdanken wir Nawid Naderi. Als er in Schubhaft genommen wurde, hat sich eine kleine WhatsApp-Gruppe gebildet, die sich am Sonntag, dem 28. Juli, zum ersten Mal leibhaftig getroffen hat – und zwar im Polizeianhaltezentrum am Hernalser Gürtel.
Ich habe Nawid 2016 kennengelernt, im Rahmen eines Schreibworkshops, den unser Blinklicht Media Lab in Kooperation mit den LehrerInnen der BHAK/BHAS Polgarstraße in einer sogenannten Brückenklasse veranstaltet hat. Seither ist der Kontakt nicht mehr abgerissen. Nawid hat sich über die Maßen engagiert, hat Theater gespielt, Freundschaften geschlossen und uns immer wieder zu Lesungen begleitet und dort viele – auch prominente – Bekanntschaften gemacht, die von unserem Fotografen Marco Büchl gut dokumentiert sind.
Anfang August, kaum aus der Schubhaft entlassen, hat sich Nawid auf den Weg gemacht. Es schien ihm – wohl zur Recht – aussichtslos, hier in Österreich noch länger auf Sicherheit zu hoffen. Jetzt ist Nawid in Frankreich, in Paris. Die Nächte dort hat er bisher meist unter Brücken verbracht.
Tag für Tag verschwinden Menschen in Schubhaft. Menschen, die seit Jahren versuchen, in Österreich ein Leben in Würde zu führen. Immer wieder werden solche Menschen abgeschoben. Immer wieder auch nach Afghanistan. Und immer wieder flüchten Menschen, die diesem Schicksal entgehen wollen, weiter in andere Länder. Sie müssen flüchten, weil unser Land nicht bereit ist, sie aufzunehmen, sie zu beschützen.
Vor diesem Hintergrund treffen wir uns heute hier, um ein #hierbleiberecht zu diskutieren, ein Bleiberecht also für all jene Menschen, die seit mindestens drei Jahren bei uns sind.
Menschlichkeit alleine wäre Grund genug, so ein #hierbleiberecht als eine Art Amnestie Realität werden zu lassen: Drei Jahre ohne irgendwelche Sicherheit hier auszuharren, das ist eine Härte, die niemandem zumutbar ist und dennoch vielen Menschen bei uns zugemutet wird.
Man kann zudem auch ein rein praktisches Argument bemühen: Wenn die Republik es trotz größtmöglichem Aufwand nicht schafft, einem hier zu uns geflüchteten Menschen in drei Jahren entweder Sicherheit zu bieten oder ihn außer Landes zu bringen, dann ist es mindestens vernünftig, diese offenkundig erfolglosen Bemühungen einzustellen. Das spart viele Ressourcen, viel Geld und nicht zuletzt viel Leid.
Darüberhinaus gibt es aber auch noch eine politische Perspektive, die ich hier kurz erläutern möchte: Wie viele von Ihnen wissen, sammelt das Team des Blinklicht Media Lab seit vielen Jahren die BERICHTE AUS DEM NEUEN OE. Etwas technisch formuliert sind die Geschichten, die im Rahmen dieses Projekts entstehen, autobiografische Skizzen. Zusammengesetzt wie ein Puzzle fügen sich diese Geschichten zu einer Dokumentation, zu einem Bild unserer Gegenwart. Zu diesem Puzzle gehören naturgemäß auch die BERICHTE VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN. Mehr als 400 davon haben wir in bisher zwei Büchern – WIR. HIER UND JETZT I + II – publiziert. Wenn wir Menschen bitten, uns ihre Geschichte zu erzählen und sie aufzuschreiben, öffnen wir im Idealfall auch einen Handlungsraum: Indem Menschen ihre individuelle Geschichte erzählen, machen sie sich sichtbar. Das Aufschreiben und das Freigeben einer solchen Geschichten ist als Akt der Selbstermächtigung zu verstehen. In diesem Sinn ist es ein politisches Handeln, das die zwischenmenschlichen und meinetwegen auch (medien-)pädagogischen Aspekten dieses Schreibens begleitet. Indem sich diese Menschen – Flüchtlinge, also von den Privilegien unserer Bürgergesellschaft Ausgeschlossene – mit ihrer Geschichte einbringen, schreiben sie sich in eine narrative Demokratie ein. In Summe dokumentieren diese Texte aber noch ein brisantes politisches Detail:
Die Menschenrechte garantieren dem Menschen zwar das Recht, seinen Staat zu verlassen. Ein Recht darauf, irgendwo anzukommen, in einem bestimmten Land heimisch zu werden, ist aber nirgendwo festgeschrieben. Menschen, die von zuhause flüchten, tun das im Wissen, dass sie sich auf einen unsicheren Weg zu einem unsicheren Ziel machen. Sie nehmen sich damit ein Recht, das ihnen von unseren Gesellschaften und unseren Rechtssystemen vorenthalten wird. Sie ermächtigen sich selbst, in dem sie ein (noch!) nicht institutionalisiertes Recht auf Bewegungsfreiheit einfach wahrnehmen. Mein Journalistenkollege Miltiadis Oulios hat dazu ausführlich publiziert, unter anderem findet sich in seinem empfehlenswerten Band „Blackbox Abschiebung. Geschichten und Bilder von Leuten, die gerne geblieben wären“ die folgende Passage:
„Die Menschen, um die es geht, geben sich in der Praxis eben nicht nur mit den Menschenrechten und dem Menschsein, der bloßen Rettung ihres menschlichen Lebens zufrieden, sondern verlangen etwas das über den Horizont der bloßen Menschlichkeit hinausgeht, das letztlich nicht humanitär, sondern nur politisch begründet werden kann. Nur ein Bürger kann nicht abgeschoben werden. Nur der Status eines Bürgers erlaubt es einem Menschen, im gegebenen Kontext nicht begründen zu müssen, weshalb er an einen Ort ziehen oder dort bleiben will. Sie praktizieren damit unter prekären Bedingungen ein transnationales, mithin sogar ein Weltbürgerrecht, das es offiziell nicht gibt. Der Begriff der ‚Menschlichkeit’ erlaubt solch einen politischen Zugang nicht.“
In diesem Sinne abschließend zum #hierbleiberecht:
+ Es ist menschlich geboten, dass wir jenen, die hier bei uns Sicherheit suchen, diese Sicherheit gewähren, dass wir ihnen ein #hierbleiberecht gewähren; meinetwegen im ersten Schritt als Amnestie, als Gnadenakt.
+ Die Menschen, über die wir hier sprechen, haben aber mehr verdient: Nicht zuletzt aufgrund ihrer Geschichte, ihres Überlebenskampfes haben sie das Recht darauf, dass wir sie auch politisch ernst nehmen. Sie haben mit ihrer Flucht ins Ungewisse politisch gehandelt (lesen Sie ihre Berichte in unseren Bücher!); es steht uns als Gesellschaft gut an, diesen Aspekt ebenso ernst zu nehmen.
+ Das alles kann nur ein Anfang sein. Denn: Wer da ist, ist von da! Die 3‑Jahresfrist ist also willkürlich, aber mit Bedacht gewählt – sie betrifft vor allem auch Menschen, die im Sommer der Flucht 2015 zu uns gekommen sind. Drei Jahre und in vielen Fällen auch schon viel länger hat es dieser Staat nicht geschafft, ihnen Sicherheit zu geben oder sie loszuwerden. Über all die Jahre wurde an diesen Menschen herumexperimentiert. Jetzt reicht es! Sie müssen #hierbleiben dürfen!
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PS: Wer neugierig und willig ist, sich in diesem Kontext mit uns zu engagieren; wer bereit ist, seinen Namen in den Dienst der Sache zu stellen, Talente, Fantasie und/oder Arbeitskraft einzubringen; wer sich in diesem Kontext vernetzen und wirksam werden will, kommt
am 24. September um 19.00 Uhr
ins Blinklicht Media Lab auf die Fischerstiege (1010 Wien).
WIR müssen HIER UND JETZT handeln. Denn für Nawid ist selbst das schon zu spät.
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Fotos: Marco Büchl / Blinklicht