376 JUNGE AUTORINNEN UND AUTOREN erzählen in diesen Bänden, wie sie geworden, wie sie dahin gekommen sind, wo sie heute leben, lernen, lieben, arbeiten. Jede dieser Geschichten gewährt also Einblick in ein Leben. In Summe erzählen sie aber auch von den Möglichkeiten des Zusammenlebens, vom aktuellen Stand des gesellschaftlichen Zusammenhalts, natürlich auch von Schwachstellen, die schnell zu Bruchstellen werden können.
WIR IN SALZBURG I + II. Die in diesen beiden Bänden gedruckten Texte wurden ursprünglich handschriftlich verfasst. Die ersten sind in drei Workshops im Juni 2015 entstanden – und zwar in zwei 4. Klassen der Neuen Mittelschule (NMS) Hallein-Stadt sowie in einer Klasse der Polytechnischen Schule (PTS) Hallein. In einer Kooperation mit der Arbeiterkammer Salzburg, dem Referat Jugend, Generationen, Integration des Landes Salzburg und der Kulturabteilung der Landeshauptstadt Salzburg wurde sodann eine Stadt und Land umfassende Workshop-Reihe aufgesetzt. In drei Durchgängen – im April, Mai und Oktober 2017 – wurden in 13 Schulen und Bildungseinrichtungen in Salzburg, Hallein, Bischofshofen, St. Johann im Pongau sowie in St. Gilgen rund 20 Workshops angeboten. In Summe sind dabei die hier veröffentlichten Texte entstanden.
Zygmunt Baumann, der große Soziologe, hat uns den Gedanken hinterlassen, dass die Reise unseres Lebens auf zwei interagierenden Faktoren basiert: dem Schicksal einerseits und den von ihm ermöglichten realistischen Optionen andererseits. Dieses „Set“, sagte er, lässt sich nicht überspringen. „Aber verschiedene Leute werden eine unterschiedliche Wahl treffen, und das ist eine Frage des Charakters. Deshalb hat man zur selben Zeit Anlass zu Pessimismus und Optimismus. Pessimismus, weil es unüberwindbare Grenzen der Möglichkeiten gibt, die einem offensten. (…) Optimismus, weil man, im Unterschied zum Schicksal, an seinem Charakter arbeiten kann.“ Wie präzise Baumann damit den Lauf des Lebens seziert, zeigen auch die Texte der mehr als 370 jungen Menschen, die in diesen beiden Bänden nun gedruckt vorliegen. Schicksal allüberall. Aber dann eben auch Möglichkeiten zuhauf, Chancen. Und Hürden. Ungerechtigkeiten. Ungleichheiten. Die ganze Bandbreite.
Die Schreib-Workshops des Blinklicht Media Lab werden seit 2011 in Schulen (mittlerweile in fast allen Typen) sowie in zahlreichen anderen Bildungsinstitutionen (anfangs vor allem in Produktionsschulen, seit einiger Zeit auch etwa in Volkshochschulen und im Jugendcollege der Stadt Wien) angeboten. Jahr für Jahr entstehen dabei im Schnitt rund 500 BERICHTE AUS DEM NEUEN OE. Daraus sind bisher elf Bücher geworden, allesamt erschienen in der edition IMPORT/EXPORT.
Eingeleitet werden die Workshops mit dem Angebot eines Tauschgeschäfts: Jede Autorin, jeder Autor bekommt ein Buch mit 240 Geschichten von Menschen, die Grenzen überschritten haben und davon in der Ich-Form berichten (IMPORT/EXPORT: Lauter Ausländer/Noch mehr Ausländer). Im Gegenzug geben die Jugendlichen ihre Hefte ab und die Geschichten damit zur Publikation frei.
Tief beeindruckend sind oft jene ersten Minuten des Schreibens, in denen eine ganze Workshop-Gruppe in den Flow kommt: die Köpfe nach vorne geneigt, die Blicke auf die Hefte gerichtet; auf die eben noch unberührten Seiten fließen erste Worte; anfängliches Zaudern verebbt, der Geräuschpegel sinkt auf ein Minimum; ein Anfang ist gemacht. Nun geht es Satz um Satz tiefer in die Geschichte. In der Ich-Form erzählen die Schreibenden so aus ihrem Leben. Was in diesen Minuten passiert, lässt sich mit einer Passage aus dem Tagebuch 1946–1949 von Max Frisch treffend illustrieren: „Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.“
Erschienen sind die beiden Salzburg-Bände in der edition IMPORT/EXPORT: