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Sonntag, 22. Januar 2023

Ein Selfie mit dem Stehgeiger

Ein Australier in Niederösterreich: Der 60-jährige Russell McGregor lebt in Eichgraben und ist als Stehgeiger und Dirigent in aller Welt unterwegs. 
Zuletzt geändert am 27. Januar 2023

Zur Welt gekom­men bin ich in Oxford. Schon als ich drei Mona­te alt war, haben mich mei­ne Eltern auf einer sechs Wochen lan­gen Schiffs­rei­se nach Mel­bourne über­sie­delt. Dort bin ich auf­ge­wach­sen, habe am Vic­to­ri­an Col­lege of the Arts Musik stu­diert und 1985 anläß­lich ihres Besu­ches in Aus­tra­li­en sogar für Charles and Lady Di musiziert. 

Ein paar Jah­re spä­ter – ich hat­te gera­de mit José Car­re­ras und dem Aus­tra­li­en Pops Orches­tra Kon­zer­te in Aus­tra­li­en und anschlie­ßend mit dem Mel­bourne Cham­ber Orches­tra in Süd­ko­rea und Ita­li­en gespielt – woll­te ich mich vor der Rück­rei­se noch zwei Wochen lang Wien umschau­en. Das war 11992. Und jetzt bin ich immer noch. Genau­er gesagt: ich lebe seit 15 Jah­ren in Eich­gra­ben, unter­rich­te seit 26 Jah­ren an der Musik­schu­le in Waid­ho­fen, bin als Steh­gei­ger und Diri­gent mit dem Lin­zer Johann Strauss Ensem­ble und seit kur­zem nun auch mit dem Rus­sell McGre­gor Orches­tra in aller Welt unter­wegs. Außer­dem spie­le ich mein Leben lang schon lei­den­schaft­lich Ten­nis. Also fad wird mir nicht. 

Als ich vor 30 Jah­ren ent­schied, in Öster­reich zu blei­ben, hat­te ich in Mel­bourne noch zwei Bau­stel­len offen. Zum einen muss­te ich mein Haus ver­kau­fen, zum ande­ren muss­te ich mein Instru­ment bezah­len. Damals hat­te mir mein Gei­gen­bau­er vor der Tour­nee eine Gei­ge ange­bo­ten, die ich erst nicht ein­mal anschau­en woll­te, weil ich sie mir ohne­hin nicht leis­ten konn­te: ein super Instru­ment, 1697 gebaut von Car­lo Giu­sep­pe Tes­to­re. Mit viel gutem Zure­den habe ich mich dann über­zeu­gen las­sen und das gute Stück leih­wei­se mit auf die Rei­se genommen. 

Nun bin ich eigent­lich kein Gei­gen-Freak. Aber ab dem Moment, wo ich sie zum ers­ten Mal gespielt habe, war mir klar, dass ich die haben muss. Ich hat­te davor schon Stra­di­va­ris gespielt – das war aber nichts für mich. Die Tes­to­re hin­ge­gen war und ist bis heu­te wun­der­bar. Sie ist nicht nur über 300 Jah­re alt, sie ist auch ziem­lich wert­voll. Aber nach­dem sie regis­triert und gut ver­si­chert ist, kann ich sie über­all spie­len. Ich tre­te damit sogar in Pubs und Bars auf. Im Dezem­ber bin ich wie­der mit dem Johann Strauss Ensem­ble unter­wegs. Erst geht‘s nach Athen, anschlie­ßend für zehn Tage quer durch Rumä­ni­en. Für die­se Tour­nee wird ein eige­ner Secu­ri­ty-Mann enga­giert, nur für die Geige. 

RussellMcGregor
Rus­sell McGre­gor im Novem­ber 2022: „Also fad wir mir nicht“

2018 hat­te ich wie­der ein­mal in Aus­tra­li­en zu tun und habe auch mei­nen Gei­gen­bau­er wie­der besucht – der mir auch dies­mal etwas Beson­de­res zei­gen woll­te: ein Noten­kon­vo­lut vom deut­schen Kapell­meis­ter Karl Reit­her, eine anti­qua­ri­sche Rari­tät, 292 sel­te­ne, kaum noch gehör­te Musik­stü­cke, aus dem 19. und 20. Jahr­hun­dert. Dar­un­ter auch Ori­gi­na­le aus der Fami­lie Strauss. Salon­mu­sik, Heu­ri­gen­mu­sik. Ich hab das Bün­del damals in der Gara­ge mei­nes Gei­gen­man­nes durch­ge­schaut und wuss­te, die müs­sen nach Wien. Also habe ich sie gekauft, mit dem Schiff nach Euro­pa und schließ­lich in mein Haus nach Eich­gra­ben gebracht. Was mir dann noch gefehlt hat, war ein pas­sen­des Orches­ter. Und so kam das Rus­sell Mc Gre­gor Orches­tra in die Welt. Wir spie­len Wal­zer und Wie­ner Lie­der, Ouver­tü­ren und Aus­zü­ge aus Opern. 

Beson­de­ren Wert lege ich bei all mei­nen Auf­trit­ten neben der Qua­li­tät der Musik und einer per­fek­ten Auf­füh­rung auf die Nähe zum Publi­kum. Immer ist die Büh­ne höher und das Publi­kum muss rauf schau­en. Um die­se Distanz zu über­win­den, spie­le ich mei­ne Gei­ge immer mit dem Rücken zum Orches­ter. Dabei diri­gie­re ich auch und habe das Publi­kum im Blick. Ich ach­te dar­auf, dass der Saal zu 80 Pro­zent beleuch­tet ist. Ich mode­rie­re, ich rede viel aus dem Steg­reif. Wenn jemand zu spät in den Saal kommt, mache ich auch mal einen Witz: wir fan­gen für Sie gleich noch mal von vor­ne an. Über die Jah­re ist es mir so gelun­gen, eine Bezie­hung zu mei­nem Publi­kum auf­zu­bau­en, wie man es sonst eher aus Rock und Pop kennt. Ich unter­hal­te die Leu­te. Sie haben Spaß und machen Sel­fies. Das hät­te dem Scha­ni Strauss sicher auch gefallen. 

Auf­ge­zeich­net von Ernst Schmiederer 

Leicht gekürzt erschie­nen in: KUNST­STOFF Nr. 40 / Dezem­ber 2022
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