Meinetwegen hätte an diesem Tag alles einfach nur schön sein können! Friede, Freude, Worte suchen. Dankesworte.
Als Volksbildungspreisträger hätte ich meinen Dank gerne ganz einfach nur in eine Verneigung vor Viktor Matejka verwoben. In eine Verneigung vor dem Mann also, der als einziger österreichischer Politiker Anstand und Schneid genug hatte, die ins Exil Vertriebenen 1945 zur Rückkehr einzuladen.
Ich hätte mich gerne ganz einfach nur auf mathematisches Glatteis begeben. Ich hätte gerne nachgewiesen, dass eins und eins unter gewissen Bedingungen mehr ist als zwei – zumal, wenn es um Matejka geht, den kritischen Katholiken, der als unorthodoxer Kommunist und anarchischer Stadtrat für Kultur und Volksbildung eine Art Beruf daraus gemacht hat, Österreich die Ehre zu retten.
„Volksbildung mach ich wo immer“, hat Matejka gesagt: „Da brauch ich dazu nicht einmal eine Volkshochschule.“
An der Stelle wäre mir die Erinnerung an unseren Freund Willi Resetarits dazwischen gekommen: Willi war ja ein außergewöhnlich effektiver Volksbildner, spezialisiert in den Disziplinen Herzensbildung und Menschenliebe, tätig „wo immer“ – also dort, wo es Sinn machte.
„Es geht nichts verloren, wenn es gesammelt und gesichtet wird“, hat Matejka auch gesagt. Und so hätte ich mich in meiner Rede langsam jener Kreuzung genähert, an der ich Viktor Matejka einst begegnet bin.
Auf dem Weg dahin hätte ich noch einen Exkurs über mein Sammeln und Sichten eingeschoben. Hätte auf unser Archiv mit den Geschichten der Gegenwart Bezug genommen. Hätte räsoniert, warum ich im Zeitalter des Digitalen ein paar tausend Handschriften gesammelt und gesichtet und warum ich diese Handschriften zuletzt unter prekären Umständen vor dem Verschwinden im Papiercontainer gerettet habe.
Und weil – meinetwegen – an diesem Tag alles einfach nur hätte schön sein können, wäre ich noch auf Matejkas „Pickbücher“ gekommen, um dann von meinem Besuch in seiner Wohnung in der Theobaldgasse zu erzählen. Einem Besuch, den ich heute – fast vier Jahrzehnte später – als Audienz in Erinnerung habe. Der weise alte Mann, die weißen Haare, der weiße Bart, seine Geschichten, sein Schmäh, das viele Papier und die Hähne allüberall. Und irgendwo mittendrin ich, der junge profil-Redakteur im Direktkontakt mit der Zeitgeschichte.
Damit meine Dankesworte aber nicht als nur einfach schön – also: zu harmlos – in Erinnerung bleiben, hätte ich ein paar Gedanken formuliert zum Verhältnis Stadt und Bürger. Als Exempel hätte ich insbesondere verwiesen auf die doch sehr ungeklärten Verhältnisse zwischen der Stadt Wien und dem Citoyen Schmiederer. Und gerne, so hätte ich angemerkt, würde ich bei Interesse an passender Stelle mehr dazu sagen.
Schließlich wäre gekommen, was am Ende einer so wunderbaren Veranstaltung kommen muss. Man stellt sich hin und sagt einfach danke! So wie ich das jetzt tue! Laut & deutlich: DANKE!
Danke, sehr geehrte Frau Stadträtin! Danke, liebe Jurorinnen und Juroren! Danke, liebe Laudatorin! Danke auch Ihnen und Euch, verehrtes Publikum! Ich danke meiner Frau, meinen Söhnen, meinen Kollegen und den vielen Freundinnen und Unterstützern, die mir den Rücken gestärkt, unsere Bücher gelesen und meine Arbeit ermöglicht haben.
Wir Preisträger*innen danken für die Auszeichnungen, für die Ehrung und die Aufmerksamkeit, für das Rampenlicht. Wir danken den Kolleginnen und Kollegen der Frau Stadträtin sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der ausführenden Magistratsabteilung 7 für ihre Mühen. Wir freuen uns, dass die Stadt Wien uns und unser Tun ausdrücklich auch vermittels dieser Preise wahrgenommen hat.
Aber leider. Dieser Tag ist eben nicht einfach nur schön! Leider kann ich mich in diesem Rahmen nicht einfach nur vor Viktor Matejka verbeugen. Leider kann ich nicht einfach nur in unser aller Namen danken. Ich kann nicht ausblenden, was uns allen gerade widerfährt.
Seit Putin über die Ukraine herfällt, seit er mit dem Einsatz von Nuklearwaffen droht, seit unsere Welt sich in seinen Krieg gezogen sieht, seither liegen Schatten über all dem Schönen.
Es gibt Menschen, die uns gesagt haben, wohin die Reise gehen wird. Es gibt – zum Glück! – Menschen wie Irina Scherbakowa, Historikerin, Publizistin und Aktivistin der gerade zwangsaufgelösten Menschenrechtsorganisation MEMORIAL.
Ich verneige mich also heute auch vor der Volksbildnerin Irina Scherbakowa, weil sie uns hilft, „die Geheimnisse und Lügen über die Vergangenheit zu durchschauen“, wie sie selbst einmal geschrieben hat. Und zwar – siehe Matejka – mit „dem Sammeln und Sichten“ von Texten, auf dass nichts verloren gehe.
Im gesamtrussischen Schreib-Wettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“, initiiert und seit 20 Jahren von MEMORIAL am Laufen gehalten, haben Schülerinnen und Schüler Texte verfasst, die heute auch wie Prophezeiungen zu lesen sind.
Etwa die Geschichte, die Kirill Sawodjuk über Schura, den Freund seines Vaters geschrieben hat: „Träume und Scheitern eines Waisenkindes aus Stalingrad: Wie Onkel Schura seinen Vater verlor“.
Schura, dessen Mutter schon ganz früh gestorben war, wurde mit fünf Jahren Vollwaise und irrt seither durch ein elendes Leben – als Straßenkind, als Invalide, als Kolchosarbeiter, als untröstbar unglücklicher alter Mann. Sein Vater war in den Krieg gezogen, um 1944 als Kanonenfutter verheizt zu werden. Kirill hat Schuras Geschichte rekonstruiert und für uns aufgeschrieben.
Als Erinnerung? Als Mahnung? Vielleicht einfach als Hinweis darauf, dass wir aus der Vergangenheit und dank der Aktivitäten von MEMORIAL schon genau wissen, was nun und in den kommenden Jahren Sache ist: Putins Krieg produziert tagtäglich weitere Volksfeinde, weitere tote Soldaten, weitere Invaliden, weitere Waisenkinder.
MEMORIAL und damit die Aufklärungsarbeit der Volksbildnerin Irina Scherbakowa wurden gerade mit dem Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet. Abgeordnete aus fast allen im estnischen Parlament vertretenen Parteien haben vorgeschlagen, MEMORIAL mit dem Friedensnobelpreis 2022 auszu-zeichnen. Das Internationale Auschwitz Komitee unterstützt den Vorschlag – „aus vollem Herzen“, wie es heisst.
Ich ersuche die Menschenrechtsstadt Wien, sich diesem Vorschlag anzuschließen und darauf hin zu wirken, dass dies auch alle anderen Human Rights Cities tun.
Das wäre wohl auch im Sinn von unserem Freund Willi Resetarits. Und es wäre das Mindeste, was wir heute hier noch auf den Weg bringen können.
Vielen Dank!