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Samstag, 07. Januar 2023

Vom Sammeln und Sichten

Dankesrede anläßlich der Verleihung des Volksbildungspreises der Stadt Wien.
Zuletzt geändert am 25. April 2023
Preisverleihung mit Monika Sommer und Veronica Kaup-Hasler

Mei­net­we­gen hät­te an die­sem Tag alles ein­fach nur schön sein kön­nen! Frie­de, Freu­de, Wor­te suchen. Dankesworte.

Als Volks­bil­dungs­preis­trä­ger hät­te ich mei­nen Dank ger­ne ganz ein­fach nur in eine Ver­nei­gung vor Vik­tor Mate­j­ka ver­wo­ben. In eine Ver­nei­gung vor dem Mann also, der als ein­zi­ger öster­rei­chi­scher Poli­ti­ker Anstand und Schneid genug hat­te, die ins Exil Ver­trie­be­nen 1945 zur Rück­kehr einzuladen.

Ich hät­te mich ger­ne ganz ein­fach nur auf mathe­ma­ti­sches Glatt­eis bege­ben. Ich hät­te ger­ne nach­ge­wie­sen, dass eins und eins unter gewis­sen Bedin­gun­gen mehr ist als zwei – zumal, wenn es um Mate­j­ka geht, den kri­ti­schen Katho­li­ken, der als unor­tho­do­xer Kom­mu­nist und anar­chi­scher Stadt­rat für Kul­tur und Volks­bil­dung eine Art Beruf dar­aus gemacht hat, Öster­reich die Ehre zu retten.

„Volks­bil­dung mach ich wo immer“, hat Mate­j­ka gesagt: „Da brauch ich dazu nicht ein­mal eine Volkshochschule.“

An der Stel­le wäre mir die Erin­ne­rung an unse­ren Freund Wil­li Reseta­rits dazwi­schen gekom­men: Wil­li war ja ein außer­ge­wöhn­lich effek­ti­ver Volks­bild­ner, spe­zia­li­siert in den Dis­zi­pli­nen Her­zens­bil­dung und Men­schen­lie­be, tätig „wo immer“ – also dort, wo es Sinn machte. 

„Es geht nichts ver­lo­ren, wenn es gesam­melt und gesich­tet wird“, hat Mate­j­ka auch gesagt. Und so hät­te ich mich in mei­ner Rede lang­sam jener Kreu­zung genä­hert, an der ich Vik­tor Mate­j­ka einst begeg­net bin. 

Rathaus Volksbildung Rede
„Es geht nichts ver­lo­ren, wenn es gesam­melt und gesich­tet wird“, for­mu­lier­te Vik­tor Mate­j­ka eine zeit­lo­se Wahr­heit. (Bild: Mar­co Büchl)

Auf dem Weg dahin hät­te ich noch einen Exkurs über mein Sam­meln und Sich­ten ein­ge­scho­ben. Hät­te auf unser Archiv mit den Geschich­ten der Gegen­wart Bezug genom­men. Hät­te räso­niert, war­um ich im Zeit­al­ter des Digi­ta­len ein paar tau­send Hand­schrif­ten gesam­melt und gesich­tet und war­um ich die­se Hand­schrif­ten zuletzt unter pre­kä­ren Umstän­den vor dem Ver­schwin­den im Papier­con­tai­ner geret­tet habe.

Und weil – mei­net­we­gen – an die­sem Tag alles ein­fach nur hät­te schön sein kön­nen, wäre ich noch auf Mate­j­kas „Pick­bü­cher“ gekom­men, um dann von mei­nem Besuch in sei­ner Woh­nung in der Theo­bald­gas­se zu erzäh­len. Einem Besuch, den ich heu­te – fast vier Jahr­zehn­te spä­ter – als Audi­enz in Erin­ne­rung habe. Der wei­se alte Mann, die wei­ßen Haa­re, der wei­ße Bart, sei­ne Geschich­ten, sein Schmäh, das vie­le Papier und die Häh­ne all­über­all. Und irgend­wo mit­ten­drin ich, der jun­ge pro­fil-Redak­teur im Direkt­kon­takt mit der Zeitgeschichte.

Damit mei­ne Dan­kes­wor­te aber nicht als nur ein­fach schön – also: zu harm­los – in Erin­ne­rung blei­ben, hät­te ich ein paar Gedan­ken for­mu­liert zum Ver­hält­nis Stadt und Bür­ger. Als Exem­pel hät­te ich ins­be­son­de­re ver­wie­sen auf die doch sehr unge­klär­ten Ver­hält­nis­se zwi­schen der Stadt Wien und dem Citoy­en Schmie­de­rer. Und ger­ne, so hät­te ich ange­merkt, wür­de ich bei Inter­es­se an pas­sen­der Stel­le mehr dazu sagen.

Schließ­lich wäre gekom­men, was am Ende einer so wun­der­ba­ren Ver­an­stal­tung kom­men muss. Man stellt sich hin und sagt ein­fach dan­ke! So wie ich das jetzt tue! Laut & deut­lich: DANKE! 

Dan­ke, sehr geehr­te Frau Stadt­rä­tin! Dan­ke, lie­be Juro­rin­nen und Juro­ren! Dan­ke, lie­be Lau­da­to­rin! Dan­ke auch Ihnen und Euch, ver­ehr­tes Publi­kum! Ich dan­ke mei­ner Frau, mei­nen Söh­nen, mei­nen Kol­le­gen und den vie­len Freun­din­nen und Unter­stüt­zern, die mir den Rücken gestärkt, unse­re Bücher gele­sen und mei­ne Arbeit ermög­licht haben.

Wir Preisträger*innen dan­ken für die Aus­zeich­nun­gen, für die Ehrung und die Auf­merk­sam­keit, für das Ram­pen­licht. Wir dan­ken den Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen der Frau Stadt­rä­tin sowie den Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern der aus­füh­ren­den Magis­trats­ab­tei­lung 7 für ihre Mühen. Wir freu­en uns, dass die Stadt Wien uns und unser Tun aus­drück­lich auch ver­mit­tels die­ser Prei­se wahr­ge­nom­men hat. 

Aber lei­der. Die­ser Tag ist eben nicht ein­fach nur schön! Lei­der kann ich mich in die­sem Rah­men nicht ein­fach nur vor Vik­tor Mate­j­ka ver­beu­gen. Lei­der kann ich nicht ein­fach nur in unser aller Namen dan­ken. Ich kann nicht aus­blen­den, was uns allen gera­de widerfährt.

Seit Putin über die Ukrai­ne her­fällt, seit er mit dem Ein­satz von Nukle­ar­waf­fen droht, seit unse­re Welt sich in sei­nen Krieg gezo­gen sieht, seit­her lie­gen Schat­ten über all dem Schönen. 

Es gibt Men­schen, die uns gesagt haben, wohin die Rei­se gehen wird. Es gibt – zum Glück! – Men­schen wie Iri­na Scher­ba­ko­wa, His­to­ri­ke­rin, Publi­zis­tin und Akti­vis­tin der gera­de zwangs­auf­ge­lös­ten Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on MEMORIAL. 

Ich ver­nei­ge mich also heu­te auch vor der Volks­bild­ne­rin Iri­na Scher­ba­ko­wa, weil sie uns hilft, „die Geheim­nis­se und Lügen über die Ver­gan­gen­heit zu durch­schau­en“, wie sie selbst ein­mal geschrie­ben hat. Und zwar – sie­he Mate­j­ka – mit „dem Sam­meln und Sich­ten“ von Tex­ten, auf dass nichts ver­lo­ren gehe. 

Im gesamt­rus­si­schen Schreib-Wett­be­werb „Der Mensch in der Geschich­te. Russ­land im 20. Jahr­hun­dert“, initi­iert und seit 20 Jah­ren von MEMO­RI­AL am Lau­fen gehal­ten, haben Schü­le­rin­nen und Schü­ler Tex­te ver­fasst, die heu­te auch wie Pro­phe­zei­un­gen zu lesen sind. 

Etwa die Geschich­te, die Kirill Sawod­juk über Schura, den Freund sei­nes Vaters geschrie­ben hat: „Träu­me und Schei­tern eines Wai­sen­kin­des aus Sta­lin­grad: Wie Onkel Schura sei­nen Vater verlor“.

Schura, des­sen Mut­ter schon ganz früh gestor­ben war, wur­de mit fünf Jah­ren Voll­wai­se und irrt seit­her durch ein elen­des Leben – als Stra­ßen­kind, als Inva­li­de, als Kol­chos­ar­bei­ter, als untröst­bar unglück­li­cher alter Mann. Sein Vater war in den Krieg gezo­gen, um 1944 als Kano­nen­fut­ter ver­heizt zu wer­den. Kirill hat Schuras Geschich­te rekon­stru­iert und für uns aufgeschrieben. 

Als Erin­ne­rung? Als Mah­nung? Viel­leicht ein­fach als Hin­weis dar­auf, dass wir aus der Ver­gan­gen­heit und dank der Akti­vi­tä­ten von MEMO­RI­AL schon genau wis­sen, was nun und in den kom­men­den Jah­ren Sache ist: Putins Krieg pro­du­ziert tag­täg­lich wei­te­re Volks­fein­de, wei­te­re tote Sol­da­ten, wei­te­re Inva­li­den, wei­te­re Waisenkinder. 

MEMO­RI­AL und damit die Auf­klä­rungs­ar­beit der Volks­bild­ne­rin Iri­na Scher­ba­ko­wa wur­den gera­de mit dem Theo­dor-Heuss-Preis aus­ge­zeich­net. Abge­ord­ne­te aus fast allen im est­ni­schen Par­la­ment ver­tre­te­nen Par­tei­en haben vor­ge­schla­gen, MEMO­RI­AL mit dem Frie­dens­no­bel­preis 2022 aus­zu-zeich­nen. Das Inter­na­tio­na­le Ausch­witz Komi­tee unter­stützt den Vor­schlag – „aus vol­lem Her­zen“, wie es heisst. 

Ich ersu­che die Men­schen­rechts­stadt Wien, sich die­sem Vor­schlag anzu­schlie­ßen und dar­auf hin zu wir­ken, dass dies auch alle ande­ren Human Rights Cities tun. 

Das wäre wohl auch im Sinn von unse­rem Freund Wil­li Reseta­rits. Und es wäre das Min­des­te, was wir heu­te hier noch auf den Weg brin­gen können.

Vie­len Dank!

Vor­ge­tra­gen am 10. Mai 2022 anläss­lich der Ver­lei­hung PREI­SE DER STADT WIEN 2020 UND 2021 im Wie­ner Rathaus
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