Geboren bin ich in Santiago de Chile. Inzwischen lebe ich in der kältesten Stadt meines Lebens, in Ann Arbor, einer Universitätsstadt im Bundesstaat Michigan, 40 Autominuten von Detroit entfernt. Mein österreichisches Leben scheint mir manchmal wie ein lange vergangener Traum.
Im September 1983 flüchtete ich vor Pinochets Diktatur aus Chile und kam nach Wien, wo ich später meine zwei Töchter geboren habe. Die österreichische Regierung zeigte sich damals sehr großzügig und gewährte mir die Staatsbürgerschaft. Das waren noch andere Zeiten, fürwahr. Jedenfalls stärkte mir der österreichische Pass in diesen Jahren den Rücken: Ich konnte nach Chile reisen und war dabei einigermaßen sicher, weil ich die österreichische Botschaft hinter mir wußte. Mit einem bittersüßen Gefühl habe ich meine österreichische Staatsbürgerschaft bis heute behalten. Auch weil ich keine echte Wahl habe: Soll ich Amerikanerin werden? Unter Bush? Oder soll ich zurückgehen und mir einen chilenischen Pass besorgen? Nein.
Mir gefällt, was ich heute tue: Ich arbeite an einer tollen Universität. 60.000 Forscher, Professoren, Angestellte und Studenten bevölkern den Campus. Ich bin in der Kommunikationsabteilung für spanischsprachige Belange zuständig. Das ist zwar nicht so aufregend wie der Journalismus. Mein Arbeitsleben in Wien als Mitteleuropa-Korrespondentin für El Pais war mit größeren Adrenalinausstößen verbunden. Aber dafür helfe ich heute Menschen, die das wirklich brauchen. Latinos werden in Amerika ja behandelt wie Sklaven: Sie sollen arbeiten, dabei aber möglichst unsichtbar bleiben. Und wenn sie ohne Papiere aufgegriffen werden, deportiert man sie umstandslos.
Das europäische Leben fehlt mir. Ich vermisse die Komplexität der Debatten, das Bewußtsein und die Wachsamkeit der politisch aktiven Menschen. Ich vermisse die Kultur, die Museen und meine Freunde. Ich vermisse meinen Lieblingsober, Herrn Robert vom Café Landtmann. Sogar die deutsche Sprache, die ich anfangs gehasst habe, fehlt mir heute. Mein Haus ist zwar farbenfroh wie jeder chilenische Haushalt. Umgeben bin ich aber von den Büchern von Canetti, Jelinek und Kafka. Ich kann keinen Walzer hören, ohne zu weinen. Regelmäßig lese ich im Internet über Österreich. Und meine Töchter fahren häufig nach Wien, um ihren Vater zu besuchen.
Unter all den Ländern, in denen ich bisher gelebt habe, ist Österreich sicher das wichtigste für mich. Dort habe ich die prägenden Jahre verbracht. Dennoch schrecke ich seit Jahren davor zurück, Wien zu besuchen. Immer wieder verschiebe ich diese Reise auf später. Oft denke ich dabei an meinen Vater, der 1939 aus Deutschland geflüchtet und ein Leben lang nostalgisch geblieben ist. „Aber Europa ist Europa“, hat er mit traurigem Gesicht oft zu mir gesagt. Heute verstehe ich ihn. Europa ist Europa.