Ich bin an der Stanford Universität als Professor für Psychiatrie und menschliche Entwicklung tätig. Besonderen Wert lege ich bei meinem Tun auf den zweiten Teil, auf die menschliche Entwicklung. Die Psychiatrie beschäftigt sich mit Symptomen und Krankheiten. Das reicht aber in den meisten Fällen nicht. Es gibt Menschen, die keinerlei Krankheitssymptome zeigen, aber so leben als ob sie festgefroren wären. Sie entwickeln sich nicht weiter. Häufig kann man dieses Phänomen etwa bei Mädchen mit Anorexie beobachten. Die werden psychiatrisch behandelt und von ihrer Anorexie geheilt. Dadurch kommen sie zwar wieder in einen Normalzustand, sie essen, sie haben ihre Periode, sie gehen zur Schule. Aber sie machen nicht, was Gleichaltrige machen. Sie bleiben stecken. Dazu kommt, dass Menschen, deren Magersucht geheilt wurde, dann oft mit Angstzuständen reagieren, die sie an der Weiterentwicklung hindern. All das kann man nicht allein mit Drogen behandeln.
Drogen an sich sind nichts Schlechtes. Als Arzt darf man aber nie vergessen, dass es in der Psychiatrie kein einziges Medikament gibt, das eine Krankheit auskurieren kann. Wir haben kein Penicillin. Wir müssen daher psychologisch gut beobachten und das soziale Umfeld intensiv einbeziehen. Ich habe im Rahmen meiner Forschungsgruppe an der Stanford University über 30 Jahre lang mit Delinquenten gearbeitet, mit Gefängnisinsassen, mit traumatisierten Jugendlichen, die in den innerstädtischen Kriegszonen Kaliforniens aufgewachsen sind. Stress, Traumatisierung, Delinquenz – diese Themen domieren mein Forscherleben. Heute setze ich große Hoffnungen in die Entwicklungen der Neuropsychologie, wo etwa bei der Behandlung von Patienten mit Angststörungen Virtual Reality Gaming mit Biofeedback verbunden wird. Die Umgebung des Silicon Valley ist bei solchen Methoden sicher ein befruchtender Faktor.
Ich bin inzwischen emeritiert, aber sowohl in Lehre und Forschung als auch in meiner Privatpraxis weiterhin tätig. Daneben kümmere ich mich vor allem um unsere Schreibgruppe hier an der Stanford University, „The Pegasus Physicians“. Die habe ich 2008 initiert, weil das Lesen und Schreiben für Ärzte essentiell ist. Der Arzt muss wissen, wie er in einen Menschen einsteigt. Und da hilft ihm das Schreiben. Aktuell sind mehr als 50 etablierte Ärzte und gut 20 Studenten bei uns schreibend aktiv. Wir sind in fünf Arbeitsgruppen organisiert und kommen einmal im Monat zusammen, um Werke vorzutragen und zu diskutieren. Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind als Arzt auf einer onkologischen Station tätig. Da sterben jede Woche drei oder vier Kinder. Das halten Sie doch nicht einfach so aus. Vielleicht würden Sie in der Religion eine Stütze finden. Bei mir funktioniert das leider nicht. Dafür habe ich im Lauf meines Lebens immer wieder erfahren, wie wichtig Geschichten für uns Menschen sind. Wir sprechen schon im Alter von ein bis zwei Jahren gut darauf an. Dem folgend sollte das Schreiben von Geschichten schon in den Schulen ganz fest verankert werden. Wir bieten deshalb auch Schreibkurse für unsere Studenten an. Obendrein laden wir jedes Jahr einen Gastprofessor zu uns ein, den Pegasus Physicians Visiting Professor. Zuletzt hat mein österreichischer Landsmann und Freund Paulus Hochgatterer bei uns vorgetragen. Worüber er gesprochen hat? Über das Geschichtenerzählen. Und warum das so wichtig ist.