Ich bin am Wiener Stubenring aufgewachsen. Abgesehen von einer Greißlerei, in der Beamte aus den umliegenden Ministerien Wurstsemmeln kauften, gab es dort kaum Infrastruktur. In dem riesigen Haus, in dem wir einen schönen Dachausbau bewohnten, waren viele Büros untergebracht, aber nur zwei Wohnparteien. Zu jener Zeit war das eine tote Gegend. In der Zwischenkriegszeit war das Viertel sehr jüdisch geprägt. Meine Großeltern haben damals diesen Dachboden gemietet. Vor den Nazis konnten sie sich nach England retten. Als sie nach dem Krieg zurückkamen, saß eine Frau in ihrer Wohnung, die gute Beziehungen zur NSDAP unterhalten hatte. Mein Großvater war Rechtsanwalt, das war bei der Restitution hilfreich. Und dass mein Vater in der englischen Armee gedient hatte, war sicher auch kein Nachteil. Dass wir Juden sind, war in unserer Familie kaum Thema, nur im Kontext der Emigration. Ich habe zunächst Chemie studiert, wurde dann aber doch neugierig auf das Judentum. Für mich als Atheistin lag es nahe, an der Uni nach Aufklärung zu suchen. So lernte ich Kurt Schubert kennen, den Doyen der Judaistik in Wien. Ich ließ die Chemie sein, studierte Judaistik, lernte Hebräisch und promovierte an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Dass ich mich heute als jüdische Historikerin verstehe, bezieht sich aber auf mein Fachgebiet und nicht auf meine jüdische Herkunft. Mein Mann hat Geschichte studiert, er ist Historiker.
Mein Thema ist die Haskala, die jüdische Aufklärung des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese Maskilim genannten Aufklärer verstanden sich als alternative intellektuelle Elite in der jüdischen Gesellschaft. Sie waren Revolutionäre gegen die traditionellen jüdischen Eliten, gegen die Rabbiner und die Gemeindevorsteher. Zudem öffneten sie das Judentum zur Mehrheitskultur, pflegten also einen intensiven Dialog mit der christlichen Kultur. Seit gut zehn Jahren arbeite ich in diesem Kontext am Kurt-und-Ursula-Schubert Center for Jewish Studies in Olomouc/Olmütz in der Tschechischen Republik. Als ein Ergebnis dieser Arbeit ist jetzt gerade ein von mir herausgegebenes Buch erschienen: „Ludwig August Frankl (1810 – 1894). Eine jüdische Biographie zwischen Okzident und Orient.“ Frankl wird von manchen als österreichischer Heinrich Heine bezeichnet, auch weil er die bedeutendste Kulturwochenschrift seiner Zeit herausgegeben hat, Die Sonntagsblätter. Zudem ist er als Mitinitiator des Schiller-Denkmals am Ring und als Begründer des Israelitischen Blindeninstituts auf der Hohen Warte bekannt, eine Schule in der heute die Polizei untergebracht ist.
Seit Jahresanfang bin ich in Olmütz karrenziert und am Institut für Jüdische Studien in Potsdam tätig, in einem großen Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft: „Haskala im Dialog“. Im Gefolge von Moses Mendelssohn, dem Wegbereiter der Haskala, waren zwei viel weniger bekannte Maskilim auch in Wien sehr aktiv: Juda Jeitteles und Juda Leib ben Ze’eb. Diese beiden Denker der Aufklärungszeit stehen mit ihren Werken im Zentrum dieses aufregenden Projekts.
Die Konflikte und Probleme, mit denen diese Maskilim sich beschäftigten, sind teils bis heute hochaktuell. Viele Menschen suchen nach ihrer eigenen Definition von jüdischer Identität. Ganz allgemein ist das Leben in mehreren Welten ein sehr moderner Aspekt des Daseins: man muss jeden Tag aufs Neue herausfinden, wo man steht, wohin man gehört. Wenn ich zu einer Demonstration für das Asylrecht gehe, dann gehe ich da nicht als Jüdin hin, sondern als Frau, der es wichtig ist, demokratische Werte auch im Kontext von Flucht und Asyl hochzuhalten. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mich auch ohne meine spezifische Familiengeschichte entsprechend engagieren würde.