Ich wurde 1974 Universitätsprofessor in Darmstadt. Seit fünf Jahren bin ich emeritiert. Ein Pensionsschock blieb mir bis jetzt erspart. Ich kann endlich mit Genuss das tun, was ich immer wollte: ungestört lesen und schreiben. Zu meinem Leben gehört auch, dass ich alle zwei Wochen nach Deutschland fliege, um meine Mutter zu besuchen. Sie ist 107 Jahre alt, absolut luzide und lebt in ihrer eigenen Wohnung, von mir aus der Ferne betreut.
Was das Lesen betrifft, ist die Sache einfach: In meinen Kopf gibt es eine Liste mit vielen noch ungelesenen Texten, so ist für Nachschub gesorgt. Für meine Schreibprojekte habe ich hier in der Wohnung drei Tische und zwei Computer bereitstehen. Zwischen denen pendle ich, von einem Projekt zum anderen. Vordringlich muß ich nun Die unnatürliche Wissenschaft, mein Buch über Freud und die Soziologie, fertig bekommen. Daneben arbeite ich an 700 Seiten meiner gesammelten Aufsätze, die in drei Teilen publiziert werden sollen.
Vor kurzem, bei der Lektüre des Spiegel, habe ich realisiert, dass ich inzwischen Zeitzeuge bin: „1967 – wie alles anfing“. Ich habe 50 Jahre lang Tagebuch geführt und möchte zunächst meine Frankfurter Aufzeichnungen aus den Jahren 1967/68 veröffentlichen. Und schließlich möchte ich in nächster Zeit die auf einer Neuübersetzung basierende Ausgabe der Schriften von Leo Trotzki zu Ende bringen. Bisher sind sieben dicke Bände mit Kommentaren erschienen. Drei weitere bereite ich vor.
Der universitäre Lehrbetrieb allein wäre für mich tödlich gewesen. An den unbewältigten Folgen der sozialen Öffnung der Hochschulen hat sich ja eine ganze Gelehrtengeneration zerschlissen. Ich konnte mich in dieser Misere mit publizistischen Parallelaktionen wie der Trotzki-Ausgabe oder der Monatszeitschrift Psyche über Wasser halten. Von 1968 bis 1992 habe ich als Soziologe dieses Forum der deutschsprachigen Psychoanalyse redigiert und herausgegeben. Wir konnten in jenen Jahren die Auflage von 2.000 auf 7.000 Stück steigern. Alexander Mitscherlich garantierte mir zu Beginn 1.000 Mark im Monat und sagte: „Machen Sie mal, Sie schaffen das schon.“ Hätte ich damals realisiert, wieviel Kraft mich das kosten würde – ich hätte mich sicher nicht auf dieses Abenteuer eingelassen.
Nach Wien kam ich 1988, der Liebe wegen, und begann, zwischen Frankfurt und Wien hin- und herzupendeln. Seit meiner Emeritierung lebe ich ganz in Wien. Hier konnte ich endlich all meine Bücher aus drei Wohnungen zusammenführen, wohl an die 10.000 Bände. Früher waren Privatbibliotheken viel umfangreicher. Einer meiner Lehrer, Max Horkheimer, besaß 20.000 Bücher. Hier vorn, im größten Raum, habe ich die Philosophie und die Soziologie untergebracht. Im Zimmer dahinter stehen die Nachschlagwerke, dazu der ganze Trotzki, Marx, Engels und Geschichte. Belles Lettres sind hier drüben, deutsche Romantik, Surrealismus sowie jede Menge russische und sowjetische Literatur. Und auf der anderen Seite der Wohnung lagert der Überlauf, darunter die 30 Bücher, die ich zur Vorbereitung auf einen Aufsatz über Isaak Babel konsultiert habe.