Ich bin in Stryj aufgewachsen, einer Kleinstadt, 80 Kilometer südlich von Lemberg, in der westlichen Ukraine. Von den 19 000 Juden, die einmal dort zuhause waren, haben 42 den Holocaust überlebt. Einer davon bin ich.
Es fällt auf, dass meine Heimat viele Schriftsteller hervorgebracht hat. Ludwig Begleiter, mit dem ich noch gespielt habe, wurde als Louis Begley weltbekannt. Aus Pesach Stark, ebenfalls aus Stryj gebürtig, wurde der berühmte polnische Journalist und Autor Julian Stryikowski. Und Iwan Franko, der Sohn des Dorfschmieds, ist einer der bekanntesten ukrainischen Dichter. Wo wir aufgewachsen sind, zählte nur eines: das Wissen. Man verlangte etwas von den Kindern, sie sollten lernen. Ich habe 200 Gedichte memoriert. Stark beeindruckt war ich von den wandernden Erzählern, die umher zogen, und ihre Geschichten zum Besten zu geben. Faszinierend war, wie eng die jüdischen Erzähler den Kontakt zu den Zuhörern halten konnten. Sie gingen durch die Bankreihen und hielten so die Spannung aufrecht. Mein Erzähldrang geht wohl auf diese Erlebnisse zurück. Leider verstand ich die Sprache der Erzähler nicht. Mein Vater, ein assimilierter Rechtsanwalt, sorgte nicht dafür, dass sein einziger Sohn Hebräisch oder Jiddisch lernte. Abends ging er mit mir auf den Korso, um mich im Gespräch zu bilden. Er wollte einen kleinen Spinoza aus mir machen. Leider blieb bei den Spaziergängen nicht viel Zeit für mich, weil man ihn ständig grüßte. Dennoch verdanke ich ihm, was ich im Leben erreicht habe.
Mein Vater wurde im September 1941 nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit hundert anderen kleinstädtischen Intellektuellen verhaftet. Im nahen Holobutow hat man sie alle erschossen. Meine Mutter, die mich über alles liebte, verstarb bald darauf. Mit 13 war ich Vollwaise. Bis Kriegsende hielt ich mich in Lemberg über Wasser und konnte schließlich in Krakau studieren. Nach Holobutow zu kommen, um das Grab meines Vaters zu finden, ist mir damals nie gelungen.
Erst 1998 – da hatte ich drei Jahrzehnte als Geschäftsmann hinter mir und war längst als Schriftsteller tätig – bot sich die Gelegenheit, den Ort zu besuchen. Ich hatte Jahre zuvor meine Erzählung Holobutow geschrieben und mir ausgemalt, wie es dort sein müsste – »wie eine Kulisse für Bilder von Chagall«, hatte ich formuliert. Als ich nun mit einem polnischen Fernsehteam nach Holobutow kam, war alles genau so. Sogar die berühmte Ziege war da. Jede Hütte neigte sich in eine andere Richtung. Dort, wo mein Vater und die anderen Männer im Massengrab ruhen, haben wir einen Obelisk errichtet, einen Stein aus dem Vernichtungslager Belzec. Auf dem steht in drei Sprachen: Shalom. Ruhe in Frieden.