Meine Zwillingsschwester wollte Ballerina werden, während ich von einer Karriere als Pianist träumte. Schon bald haben wir unsere Träume getauscht. Sie ist Sängerin geworden – und ich begann als Zehnjähriger eine klassische Balletausbildung in meiner Heimaststadt Istanbul. Dort war ich in einer Klasse mit neun anderen Buben, die der Lehrer in einem Waisenhaus rekrutiert hatte, um ihnen mit dem Tanz eine berufliche Zukunft zu ermöglichen. Es gab eine umfangreiche Sammlung von Tanzvideos, in der wir uns häufig bedienten. Früh schon wusste ich, dass ich eines Tages in Wien oder New York tanzen wollte. Nachdem mir die türkische Tänzerin Nilay Yesiltepe, die einst mit Rudolf Nurejew auf der Bühne gestanden war, zu einer Audition in Deutschland und damit zu einer Ausbildung an der Stuttgarter John Cranko-Schule für Ballet verholfen hatte, öffnete sich diese Welt für mich.
Zwei Jahre hindurch tanzte ich im Wiener Staatsopernballet große Rollen wie den Puck in John Neumeiers Sommernachtstraum. Ich arbeitete mit Choreographie-Legenden Renato Zanella und William Forsythe. Ich teilte die Bühne mit großartigen Tänzern wie Brigitte Stadler und Vladimir Malakhov und wurde Solotänzer an der Wiener Volksoper. Tanzstücke wie Lizz Kings Caravaggio mit der Rolle des Cupido weckten mein Interesse für modernen Tanz. Obendrein entdeckte ich in jenen Jahren den Film als Ausdrucksmedium und begann, die Arbeit von Künstlern wie Ismael Ivo zu dokumentieren.
Heute mündet all das in ein großes Dokumentarfilmprojekt. Nach meiner klassischen Karriere bekam ich das Angebot, im Cirque du Soleil als erster Tänzer in der Produktion Dralion mitzuwirken. Anschließend war ich über zwei Jahre lang in Delirium engagiert, der bis dahin größten Produktion des Cirque, mit der wir in 150 Städten gastierten. Da herrscht ein unvorstellbares Tempo, 12 Tourbusse und 22 Trucks sind unterwegs. Jeden dritten Tag kommt man in eine neue Stadt. Die größten Bühnen wie etwa der Madison Square Garden in New York sind ausverkauft.
Diese Erfahrung hat mein Leben nachhaltig verändet. Nach diversen Knie‑, Schulter und Ellbogen-Operationen bin ich nun seit zwei Jahren rekonvaleszent. Eine Zeit, die ich intensiv genutzt habe: Die ganze Delirium-Produktion hindurch habe ich Videoaufnahmen gemacht. Jetzt bin ich bei der Endfertigung meiner autobiografischen Dokumentation Delirium – Through the Eye of the Artist 1207. Die 1207 war meine Zimmernummer in Montreal während der drei Monate dauernden Proben zu dieser Produktion.
Als Künstler konnte ich bisher Asien, Europa und Nordamerika intensiv kennenlernen. In manchen Lebensphasen war meine Umgebung so multikulturell, dass ich mich fast zwangsläufig auf meine Wurzeln besonnen habe. Da erkannte ich, dass ich inzwischen sehr stark von Wien geprägt bin. Hier habe ich gelernt, das Leben gelassen, aus meiner ganz eigenen Perspektive zu sehen.