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Samstag, 30. Mai 2009

Flucht eines Pragmatisierten

Jonas Zahler
Der 59jährige Internist Jonas Zahler leitet die Ambulanz für Präventivmedizin im Herzliya Medical Center.


Es war eine Art Mid­life Cri­sis, die mich unru­hig mach­te. Als Ober­arzt am Wie­ner AKH wäre ich bis ans Ende mei­ner Tage prag­ma­ti­siert gewe­sen. Ich war zudem ärzt­li­cher Lei­ter des Mai­mo­ni­des Zen­trums, Vize­prä­si­dent der Kul­tus­ge­mein­de und Kan­di­dat der SPÖ zum Wie­ner Gemein­de­rat. Kurz­um, ich hat­te ein erfüll­tes Leben. Doch ein­mal, so dach­te ich, müss­te noch etwas Neu­es kom­men. Weil mei­ne Frau und ich bei­de jüdisch sind, war Isra­el die nahe­lie­gen­de Wahl. Ich ließ mich auf ein Jahr karen­zie­ren und wir zogen mit unse­ren drei Kin­dern los. Schon nach einem Monat war klar, dass ich nicht zurück gehen wür­de. Als ich mei­ne Kün­di­gung am AKH über­mit­teln woll­te, wuss­te der Sach­be­ar­bei­ter in der Zen­tral­be­sol­dungs­stel­le nichts mit mir anzu­fan­gen: Er kön­ne sich nicht erin­nern, dass je ein prag­ma­ti­sier­ter Beam­ter gekün­digt hätte.
Isra­el hat es uns leicht gemacht. Die Kin­der haben in kür­zes­ter Zeit Hebrä­isch gelernt und waren schnell inte­griert. Das Dazu­ge­hö­ren muss sich hier kei­ner erkämp­fen. Man ist will­kom­men, und jeder bestä­tigt einem das. Vom Ein­wan­de­rungs­land Isra­el lässt sich viel lernen.
Natür­lich ver­mis­se ich Wien. So wie jeder Mensch Vater und Mut­ter hat, so habe ich auch zwei Staats­an­ge­hö­rig­kei­ten: Isra­el ist mei­ne Mut­ter. Dass mir der Vater manch­mal fehlt, ist nor­mal. Wenn mir gele­gent­lich eine Bekann­te, die öfter nach Wien reist, fri­sche Kai­ser­sem­meln bringt, freue ich mich sehr. Ich war in Wien immer vom Wunsch getrie­ben, dazu zu gehö­ren. Mei­ne Fami­lie ist eine typisch öster­rei­chisch-unga­ri­sche Mischung. Mei­ne Groß­el­tern wur­den in Ausch­witz ermor­det. Ich bin im ers­ten Bezirk auf­ge­wach­sen und woll­te immer bewei­sen, dass ich ein ech­ter Öster­rei­cher sei. Ich war beim Bun­des­heer und Ski­leh­rer am Sem­me­ring – und gehör­te doch immer zur Min­der­heit. Das war nicht immer von Nach­teil, weil man als Exot ja mit­un­ter auch einen Bonus zuge­spro­chen bekommt. Trotz­dem ist es anstrengend.
Jetzt bin ich seit 15 Jah­ren Teil der Mehr­heit, lebe also eine Main­stream-Exis­tenz. Wir sind eine typisch israe­li­sche Fami­lie. Mei­ne Kin­der absol­vie­ren selbst­ver­ständ­lich ihren Mili­tär­dienst. Mei­ne Frau, eine Psy­cho­lo­gin, führt gemein­sam mit einer argen­ti­ni­schen Juris­tin eine Bou­tique. Und ich lei­te die Ambu­lanz für Prä­ven­tiv­me­di­zin im Herz­li­ya Medi­cal Cen­ter, einem Pri­vat­spi­tal in der Peri­phe­rie von Tel Aviv. Aus­ser­dem bin ich als Ver­trau­ens­arzt der öster­rei­chi­schen Bot­schaft in den Pen­si­ons­an­ge­le­gen­hei­ten der Alt­ös­ter­rei­cher tätig.
Ein­mal im Jahr besu­che ich Wien. Wenn ich ins Kaf­fee­haus gehe, habe ich das Gefühl, dass sich nicht viel ver­än­dert hat. Da sit­zen die­sel­ben Leu­te wie im Jahr zuvor. Wenn ich nach ein, zwei Wochen wie­der nach Isra­el zurück­keh­re, ist dort alles anders. Es gibt neue Geschäf­te. Einen neu­en Krieg. Eine neue Regie­rung. Man ver­säumt hier viel, wenn man kurz mal weg ist.

auf­ge­zeich­net von ES; ver­öf­fent­licht in: Die Zeit, Nr. 12/2009
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