Es war eine Art Midlife Crisis, die mich unruhig machte. Als Oberarzt am Wiener AKH wäre ich bis ans Ende meiner Tage pragmatisiert gewesen. Ich war zudem ärztlicher Leiter des Maimonides Zentrums, Vizepräsident der Kultusgemeinde und Kandidat der SPÖ zum Wiener Gemeinderat. Kurzum, ich hatte ein erfülltes Leben. Doch einmal, so dachte ich, müsste noch etwas Neues kommen. Weil meine Frau und ich beide jüdisch sind, war Israel die naheliegende Wahl. Ich ließ mich auf ein Jahr karenzieren und wir zogen mit unseren drei Kindern los. Schon nach einem Monat war klar, dass ich nicht zurück gehen würde. Als ich meine Kündigung am AKH übermitteln wollte, wusste der Sachbearbeiter in der Zentralbesoldungsstelle nichts mit mir anzufangen: Er könne sich nicht erinnern, dass je ein pragmatisierter Beamter gekündigt hätte.
Israel hat es uns leicht gemacht. Die Kinder haben in kürzester Zeit Hebräisch gelernt und waren schnell integriert. Das Dazugehören muss sich hier keiner erkämpfen. Man ist willkommen, und jeder bestätigt einem das. Vom Einwanderungsland Israel lässt sich viel lernen.
Natürlich vermisse ich Wien. So wie jeder Mensch Vater und Mutter hat, so habe ich auch zwei Staatsangehörigkeiten: Israel ist meine Mutter. Dass mir der Vater manchmal fehlt, ist normal. Wenn mir gelegentlich eine Bekannte, die öfter nach Wien reist, frische Kaisersemmeln bringt, freue ich mich sehr. Ich war in Wien immer vom Wunsch getrieben, dazu zu gehören. Meine Familie ist eine typisch österreichisch-ungarische Mischung. Meine Großeltern wurden in Auschwitz ermordet. Ich bin im ersten Bezirk aufgewachsen und wollte immer beweisen, dass ich ein echter Österreicher sei. Ich war beim Bundesheer und Skilehrer am Semmering – und gehörte doch immer zur Minderheit. Das war nicht immer von Nachteil, weil man als Exot ja mitunter auch einen Bonus zugesprochen bekommt. Trotzdem ist es anstrengend.
Jetzt bin ich seit 15 Jahren Teil der Mehrheit, lebe also eine Mainstream-Existenz. Wir sind eine typisch israelische Familie. Meine Kinder absolvieren selbstverständlich ihren Militärdienst. Meine Frau, eine Psychologin, führt gemeinsam mit einer argentinischen Juristin eine Boutique. Und ich leite die Ambulanz für Präventivmedizin im Herzliya Medical Center, einem Privatspital in der Peripherie von Tel Aviv. Ausserdem bin ich als Vertrauensarzt der österreichischen Botschaft in den Pensionsangelegenheiten der Altösterreicher tätig.
Einmal im Jahr besuche ich Wien. Wenn ich ins Kaffeehaus gehe, habe ich das Gefühl, dass sich nicht viel verändert hat. Da sitzen dieselben Leute wie im Jahr zuvor. Wenn ich nach ein, zwei Wochen wieder nach Israel zurückkehre, ist dort alles anders. Es gibt neue Geschäfte. Einen neuen Krieg. Eine neue Regierung. Man versäumt hier viel, wenn man kurz mal weg ist.