An den Tag meiner Berufswahl kann ich mich genau erinnern. Es war Anfang der achtziger Jahre, ein kalter Regentag in Berlin. Bis dahin hatte ich versucht, zwei Berufe auszuüben. Ich habe Geschichte studiert und bin als Sänger für Oper und Lied ausgebildet. Ich hatte bereits an mehreren Opernhäusern in kleinen Tenorpartien gesungen und so mein Studium mitfinanziert. Diese professionellen Auftritte ermöglichten ein passables Auskommen. Nur war die Kombination auf Dauer leider nicht haltbar. Und so habe ich damals gemacht, was Karriereplaner heute den Menschen anraten: eine Best Case/Worst Case-Analyse.
Als Sänger hätte ich es im allerbesten Fall zu einem Vertrag im Ensemble eines Opernhauses bringen können. Die Chancen, dass dies tatsächlich passieren würde, waren allerdings bescheiden. Im schlimmsten Fall hätte ich meine Karriere als wenig beachteter comprimario in Hildesheim beschlossen. Ich wäre also die Figur mit dem Speer gewesen, deren Auftritt genau einen Satz lang dauert: „Der König kommt“. Gemessen daran schien in einer akademischen Karriere selbst der Worst Case paradiesisch: eine nette Professur an irgendeinem kleinen College in den USA. Nachdem ich nun seit fast zehn Jahren als Universitätsprofessor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte in Wien tätig bin, hat sich meine Entscheidung als richtig erwiesen: Der Verstand hat über das Herz gesiegt. Dass in den Vorlesungen naturgemäß auch das Performative eine gewisse Rolle spielt, kommt mir entgegen.
Ich höre immer noch sehr gerne Musik. Alte Musik, Barockmusik, aber auch Verdi oder Mahlers Achte, wenn mir etwas depressiv zumute ist. Die großen Schinken gefallen mir einfach am besten. Gelegentlich singe ich auch noch. Zuletzt bin ich auf einer Geburtstagsfeier für drei Kolleginnen aufgetreten: Sie haben eine Karaoke-Anlage aufgestellt, und ich habe das Repertoire aus meiner Jugend durchgemacht: Elvis, die Everly Brothers, Bobby Darins Version von „Mackie Messer“. Mit Fug und Recht kann ich behaupten: das Publikum war nicht schlecht erstaunt.
Freitagabends singe ich beim Gottesdienst. Ich bin Chazan bei Or Chadasch, also Kantor der einzigen liberalen jüdischen Synagoge in Wien. Das dauert etwa eine Stunde. Anschließend gibt es noch Oneg Shabbat, die Freude des Shabbat. Wein und Brot werden gesegnet. Wir nehmen eine Kleinigkeit zu uns und plaudern eine halbe Stunde. Das ernsthafte Lernen findet am Samstag statt, wenn unser Rabbiner da ist. Für mich ist die Arbeit in der Gemeinde eine Chance, Seele und Stimme zu verbinden. Der Freitagabend bedeutet mir also sehr viel.