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Freitag, 06. April 2007

Dauerhaftes Provisorium in Randlage

Ingrid Angela Gössinger
Die 36jährige Wienerin Ingrid Angela Gössinger leitet seit zwei Jahren die Abteilung für Demokratisierung des OSZE-Büros in Baku.


Seit zehn Jah­ren lebe ich zumeist in geo­gra­phi­schen und poli­ti­schen Rand­la­gen und immer in dau­er­haft ein­ge­rich­te­ten Pro­vi­so­ri­en. An man­chen Orten bin ich für ein paar Mona­te, an ande­ren dann wie­der bis zu vier Jah­re lang. So habe ich Flo­renz und Mos­kau ken­nen­ge­lernt, spä­ter Prish­tina und Mit­ro­vica im Koso­vo. Dann bin ich wei­ter gezo­gen nach Rom, Skop­je, Tom­sk, Kemero­vo, Novo­si­birsk und Bar­naul in West­si­bi­ri­en. Anschlie­ßend habe ich in Bel­grad, Brüs­sel und Phnom Penh gelebt. Und zuletzt im Kau­ka­sus, in Tif­lis (Geor­gi­en), in Suk­hu­mi (Abcha­si­en) und nun in Baku.
Hier lei­te ich die Abtei­lung für Demo­kra­ti­sie­rung im OSZE-Büro. Wir wol­len die bereits 15 Jah­re alte aser­bai­dscha­ni­sche Repu­blik in Sachen Demo­kra­ti­sie­rung unter­stüt­zen. Unse­re The­men sind Medi­en­frei­heit, die Unter­stüt­zung der Zivil­ge­sell­schaft, Gleich­be­hand­lung, Men­schen­han­del, Zwangs­ar­beit und Wah­len. Meist habe ich es dabei mit Her­ren mitt­le­ren Alters zu tun, mit Beam­ten, Rich­tern und Staats­an­wäl­ten, mit Bür­ger­meis­tern, Men­schen­recht­lern und Diplomaten.
Mein Chef ist Spa­ni­er. Mei­ne Kol­le­gen kom­men aus Groß­bri­tan­ni­en, Deutsch­land, Aser­bei­dschan, Russ­land und Nor­we­gen. Mei­ne Arbeits­spra­chen sind Eng­lisch, Deutsch und Rus­sisch, nahe­zu simul­tan. Aser­bei­dscha­ner begrü­ße ich selbst­ver­ständ­lich in der Lan­des­spra­che. Ich bin stolz dar­auf, dass ich in meh­re­ren Spra­chen über den Sta­tus der Medi­en­frei­heit in Aser­bai­dschan, die Ände­run­gen in der rus­si­schen NGO-Gesetz­ge­bung oder über römi­schen Barock spre­chen kann.
Aser­bai­dschan erin­nert ein biss­chen an Süd­ita­li­en, an jene kaput­ten Land­stri­che, in denen ver­las­se­ne Indus­trie­ge­bäu­den domi­nie­ren. Die Halb­in­sel Absche­ron ist einer der dre­ckigs­ten und am meis­ten ver­seuch­ten Plät­ze die­ser Erde. Eine typisch aser­bai­dscha­ni­sche Erfah­rung: Nichts pas­siert. Die­ses Land ist pri­mi­tiv und ver­kom­men, zugleich aber schlicht und schön. Ori­en­ta­li­sche Lebens­freu­de mischt sich über­gangs­los mit boden­lo­ser Gleich­gül­tig­keit. Die eins­ti­gen Prunk­bau­ten der Ölba­ro­ne ver­fal­len völ­lig unbe­ach­tet. Die Stra­ßen­märk­te ver­sin­ken in einer Art Urschlamm. Ver­kauft wird dort nicht, um ein Geschäft zu machen, son­dern um zu überleben.
Ich woh­ne in der Innen­stadt von Baku, in einem Haus, das einer Ira­ne­rin gehört, die in Paris Mode macht und deren folk­lo­ris­tisch-moder­ne Män­tel und Blu­sen ich hier tra­ge. Von mei­nem Bal­kon sehe ich das Kas­pi­sche Meer und den Shir­van Shah Palast. Laut ist es in mei­nem Wohn­vier­tel nur, wenn der Stör­ver­käu­fer am Sonn­tag mit sei­ner Frau die Run­den macht. Er ver­kauft fri­schen Fisch, sie Bee­ren oder Eingemachtes.
Bei aller Welt­of­fen­heit und Neu­gier muß ich geste­hen, dass mir bei man­cher Rei­se der miss­mu­ti­ge Urlau­ber Trav­nicek von Hel­mut Qual­tin­ger ein­fällt: „Wenn mich das Rei­se­bü­ro nicht ver­mit­telt hätt!“

auf­ge­zeich­net von ES; ver­öf­fent­licht in: Die Zeit, Nr. 15/2007
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