Meine Frau ist Wienerin. Sie hat mich vor sechs Jahren in die Stadt gebracht. Kennengelernt habe ich Wien aber schon als 15-jähriger. Damals war ich mit meinem Onkel Lenny hier. Im Musikverein dirigierte er seine 3. Sinfonie, und in der Oper wurde seine Messe zur Aufführung gebracht. Wir wohnten im Hotel Sacher. Die Abende in seiner Suite waren meist lang und unterhaltsam. Es wurde gegessen, getrunken, sehr ernsthaft diskutiert und viel Quatsch gemacht. Später bot Lenny mir dieses Programm noch einmal. Ich absolvierte als Student die typische Europa-Tour und war zu einem Abstecher nach Wien und Salzburg geladen, wo er Mahler, Sibelius und Mozart dirigierte. Diesmal wohnten wir im Hotel Bristol. Er hatte die große Gabe, die Menschen auf sein Niveau zu heben. Nie habe ich erlebt, dass er jemanden von oben herab behandelt hätte. Es war faszinierend. Noch heute schätze ich es als Privileg, diesem beeindruckenden Menschen unter so idealen Bedingungen nahe gekommen zu sein.
Deprimierend, dass so ein Idealbild eine absolute Ausnahme ist. Im Regelfall verlangt der Alltag den Menschen zahllose Kompromisse ab. Wir sind nicht alle so genial, dass wir unseren Idealismus ohne Abstriche über die Runden bringen. Diese Erkenntnis belastete auch meinen Vater: Er war als Autor so begabt, dass er bei dem feinen Literaturmagazin The New Yorker Karriere machte. Als das Magazin aber an den Verlag Condé Nast verkauft wurde, machte ihn das depressiv. Vom künstlerisch-journalistischen Ideal, das die Redaktion angestrebt hatte, blieb in seinen Augen nur ein Scherbenhaufen. Verbittert stellte er das Schreiben ein und zog sich wie ein Arbeiter in die Pension zurück, ohne sein Werkzeug je wieder anzugreifen.
Mich haben alltägliche Notwendigkeiten immer zum Kompromiss gezwungen. Ich habe Kunstgeschichte studiert, hatte beruflich aber nur in Verwaltungspositionen mit Kunst zu tun. Als Verwaltungsdirektor der Phillips Collection, eines beliebten Museums Moderner Kunst in Washington D.C., musste ich täglich zwischen den idealistischen Ansprüchen der Kuratoren und den ökonomischen Realitäten eines unterfinanzierten Kunstbetriebs vermitteln. Später hatte ich als Verwalter der New York Foundation for the Arts das Mißvergnügen, dass wir sehr viel für einzelne Künstler arbeiteten, dabei aber meist ohne Dank blieben.
Den Beruf mit meiner Übersiedlung nach Wien hinter mir zu lassen, war ein weiterer Kompromiss – wohl jener mit dem bislang besten Zwischenergebnis. Ich arbeite für eine bekannte Schmuckmanufaktur. Das ist persönlich nicht so erfüllend wie die Arbeit für eine Nonprofitorganisation. Aber dafür kann ich abends unbelastet zu Frau und Tochter zurückkehren. Wir genießen eine Lebensqualität, die wir uns in New York nicht leisten könnten. Das mag eine Spur weniger aufregend sein als mit Onkel Lenny Sachertorte zu essen, aber ein paar Jahre werde ich es hier schon aushalten.