Die Widersprüche Wiens sind faszinierend. Keine andere europäische Metropole bietet soviel Bäuerlichkeit: wir leben in einer Großstadt und können trotzdem mit der Straßenbahn in die Weinberge fahren. Oder: Ganz selbstverständlich lebt man hier mit einem beeindruckenden Erbe an Diversität, mit einer wirklich prägenden Vielzahl unterschiedlichster kultureller Einflüsse. Und doch ist man in dieser von Musik und Kultur dominierten Stadt mit den menschenverachtenden und fremdenfeindlichen Plakatparolen von FPÖ und BZÖ konfrontiert. Das ist schwer erträglich.
Wie kann es uns gelingen, dass Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Hintergründen zusammen leben können, ohne dass das Fremde Angst macht? Das ist unser Thema. Diese positive Perspektive treibt unsere Arbeit in der Beobachtungsstelle an. Fremdheit ist immer eine widersprüchliche Erfahrung, sie ist faszinierend und verunsichernd zugleich. Politik versucht oft, diese Widersprüchlichkeiten zu vermeiden. Dabei ist es wichtig, gerade die Dilemmas zu akzeptieren. Weil wir keine Kultur entwickelt haben, mit diesen Widersprüchen umzugehen, ist das jetzt unsere Herausforderung: Unser Denken und Handeln nicht in Entweder-Oder-Mustern abzuwickeln, anzuerkennen, dass mit Fremdheit positive und negative Gefühle verbunden werden.
Natürlich könnte ich mich darauf versteifen, dass meine Arbeit eine mission impossible sei. Oder ich könnte mich mit der Einsicht bescheiden, Sisyphos müsse ein glücklicher Mensch gewesen sein. Das hilft aber nicht weiter. Es geht darum, immer wieder positive Strategien zu entwickeln, den Humor nicht zu verlieren. Das habe ich von meinem Großvater gelernt: Er wurde 1947 mit 65 Jahren von den Russen aus Dresden verschleppt. Weil er für die Amerikaner spioniert haben soll, kam er für acht Jahre in ein Bergwerk nach Russland. Doch als er 1955 mit 73 wieder nach Hause kam, war er ungebrochen und hat nach vorne geschaut. Viel später erst, unter Gorbatschow, wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben. Ich bin damals zum Grab meines Großvaters gegangen und habe dort eine Kopie des Fehlurteils verbrannt.
Wir müssen auch lernen, ganz generell mit Gefühlen umzugehen. Die Aufklärung hat unsere Gesellschaften sehr geprägt: Ich denke, also bin ich, heisst es. Das ist aber zu wenig. Es geht nämlich um mehr: Ich denke und fühle, also bin ich.