1. Desaster.
Wohin wir auch blicken, das Desaster ist da. Krieg, nebenan und weit weg sowieso. Die Gesellschaft? Gespalten. Der Fortschritt? Ein Hund. Die Kultur? In der Krise. Die Reichen reicher geworden, die Armen obdachlos und ärmer. Preise gestiegen, Zuversicht gesunken. Wirtschaftskrise. Gesundheitskrise. Bildungskrise. Klimakrise. Demokratiekrise. Polykrise? Permakrise! Der Ausnahmezustand ist normal geworden.
2. Revolution.
„Der Hauptgrund, weshalb kein Mensch an eine Revolution wirklich glaubt, ist die Gewissheit, dass niemand an eine Revolution wirklich glaubt“, schreibt Guillaume Paoli: „Gegen diese subjektive Schranke stößt jedoch die objektive Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, die eine völlige Umwandlung der Weltgesellschaft voraussetzen.“[1]
3. Subjekt.
„Hier gibt es eine Entscheidung, eine Parteinahme, ein Axiom“, schreibt Cynthia Fleury: „Dieses unantastbare Prinzip, diese regulative Idee lautet: Der Mensch kann, das Subjekt kann, der Patient kann. Dabei handelt es sich weder um einen frommen Wunsch noch um eine optimistische Sicht des Menschen. Es handelt sich um eine moralische und intellektuelle Wahl in dem Sinne, dass darauf gesetzt wird, dass der Mensch handlungsfähig ist.“[2]
4. Recht.
Die Anerkennung der angeborenen Würde, der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen. Ein Recht, gehört und gesehen zu werden. Anerkennung, ein Lebensmittel, eine Voraussetzung, damit sich ein Gefühl des Selbstwerts, ein Gefühl der Zugehörigkeit, die Motivation eines Individuums entwickeln. Psychisches und soziales Wohlbefinden prägen individuelle Lebensqualität und Gesellschaft.
5. Kampf.
„I am an invisible man. (…) I am invisible, understand, simply because people refuse to see me.” Von der Gesellschaft als Nicht-Existenz behandelt, zieht sich der „unsichtbare Mann“ im gleichnamigen Roman von Ralph Ellison nach diesen Sätzen zurück. Er raucht, er trinkt, er hört Jazz. Und er schildert seine Suche nach Identität in der Gesellschaft. Axel Honneth setzt diese Szene an den Anfang seiner Arbeit über den „Kampf um Anerkennung“.
6. Unsichtbarkeit.
Sie verweist auf „zwei Phänomene, deren Auswirkungen sich überlagern“, schreibt Pierre Rosanvallon: „Einerseits auf das Vergessen, die Zurückweisung und die Vernachlässigung, andererseits auf die Unlesbarkeit“.
Es gelte, „die gesamte Gesellschaft aus ihrer Unsichtbarkeit zu holen und Kenntnisse zu schaffen, die ihre Mitglieder einander näher bringen.“[3]
7. Sichtbarkeit.
Das Textil, das der „Gelbwesten“ genannten Bewegung ihren Namen gab, heißt in Frankreich gilet de haute visibilité, Weste für erhöhte Sichtbarkeit. „Genau darum ging es in erster Linie“, schreibt Guillaume Paoli: „um die Sichtbarwerdung jenes Teils der Bevölkerung, der am Rand der Turbogesellschaft ausgesetzt worden ist. Die im Dunkeln sieht man nicht. Sie haben eine Panne und rufen vergeblich nach dem Abschleppdienst.“[4]
8. Momo.
„Sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!“[5]
9. Aufmerksamkeit für alle.
Vor 15 Jahren wurde das Blinklicht Media Lab als zivilgesellschaftliche Institution gegründet, um demokratiepolitisch relevante Arbeit im Kulturbereich zu machen. Unsere Behauptung: Indem wir unsere Welt lesbarer machen, stärken wir die Gesellschaft und die Demokratie. Programmatisch formuliert: Aufmerksamkeit für alle! Beharrlich und von der Kulturpolitik der Republik durch Ignoranz geadelt, treiben wir das Projekt Geschichte um Geschichte, Buch um Buch voran – mit einer Bemerkung von Elias Canetti im Kopf: Ein einziger Mensch, den man wirklich anhört, bringt einen auf vollkommen neue Gedanken.
[1] Guillaume Paoli: Geist und Müll. Von Denkweisen in postnormalen Zeiten, Berlin 2023.
[2] Cynthia Fleury: Hier liegt die Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung, Berlin 2023.
[3] Pierre Rosanvallon: Das Parlament der Unsichtbaren, Wien 2015.
[4] Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht, Berlin 2019.
[5] Michael Ende: Momo, Stuttgart 1973.