Dienstagnachmittag, vor dem Bundeskanzleramt: „Timi muss bleiben“ skandieren an die hundert Schülerinnen und Schüler lautstark. Arnold Schwarzenegger, der Bundeskanzler Sebastian Kurz zum Thema Klimawandel einen Besuch abgestattet hat und gerade im schwarzen Van den Ballhausplatz verlässt, winkt den jungen Demonstranten zu. Und so mancher Passant fragt verwundert: „Wer ist Timi?“
Tatsächlich ist es nicht einfach, den Bub, der Ende dieser Woche das Land verlassen soll, in der Kinderschar ausfindig zu machen. Am ehesten erkennt man ihn an seiner roten Strickhaube – und an seinem nachdenklichen Blick.
Sobald Timi am Freitag sein Semesterzeugnis erhält, beginnt die Ungewissheit. Wird die Fremdenpolizei ihn abholen? Wird er mit seiner Familie in Schubhaft* kommen? Muss er fortan in der Ukraine leben, einem Land, in dem er noch nie war und dessen Sprache er nicht spricht? Oder darf er nach den Ferien wieder in seine Klasse zurückkehren?
„Darf Timi heute zu uns spielen kommen?
„Timi ist mein Freund“ und „Ein Herz für Timi“ steht auf den selbst gemalten Plakaten, die die Kinder in die Luft halten. Zwischendurch wendet sich ein Kind an Timis Mutter Tetiana Nynych und fragt: „Darf Timi heute zu uns spielen kommen?“
Die Mutter, das Gesicht in ihren Händen vergraben, ist von der Szenerie, die sich an diesem staatstragenden Ort abspielt, sichtlich ergriffen: „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich hoffe, wir können bleiben“, sagt Nynych.
Der Vater und der Bruder sind Kriegsdeserteure
Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Die Vorgeschichte: 2012 war Timis Mutter aufgrund schwerer Komplikationen in der Schwangerschaft aus dem ukrainischen Lwiw nach Wien gekommen. In der Ukraine hatten die Ärzte ihr und ihrem ungeborenen Sohn keine Überlebenschance gegeben. Fast drei Jahre später, inzwischen war in der Ukraine Krieg ausgebrochen, sind Timis Vater Rostyslav Kokodyniak und sein älterer Bruder nach Österreich nachgekommen. Sie sind Deserteure, erzählt die Mutter.
Ende 2014 hat die Familie einen Asylantrag gestellt, der 2019 in beiden Instanzen abgelehnt wurde. Im November des Vorjahres wurde ein weiterer Antrag gestellt, der der Familie Hoffnung gibt. Laut §56 des Asylgesetzes kann ein „Aufenthalt in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ erwirkt werden. Die Entscheidung darüber ist noch offen, doch diese Anträge werden sehr selten bewilligt. Am 31. Jänner muss die Familie Österreich verlassen – obwohl sie sich hier ein Leben aufgebaut haben.
Timi, der eigentlich Tymophij heißt, ist vor sieben Jahren in Wien zur Welt gekommen. Sein Vater führt ein Bauunternehmen, die Mutter hat eine Wirtschaftsausbildung, würde aber gerne in der Pflege arbeiten. Zu viert lebt die Familie in einer Genossenschaftswohnung. Sie bezieht keine Sozialgelder und geht in die Kirche.
Das ist die eine Seite, die des Einzelschicksals. Eines von vielen, ist man versucht hinzuzufügen. Zu Einzelfällen wie diesem geben die Behörden ungern Auskunft. Stattdessen wird die Rechtskonformität betont: „Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) hat gerichtliche Bescheide zu vollziehen“, sagt Mediensprecher Christoph Pölzl zur „Wiener Zeitung“.
Dass die Familie bis Ende der Woche das Land verlassen muss ist rechtskonform. Sie hat sogar einer freiwilligen Ausreise zugestimmt. Dass nun gegen diese protestiert wird, sorgt im BFA für Verwunderung. Die Mutter betont, man habe sie schlecht beraten. Es wurde ihr empfohlen, in die Ukraine auszureisen und von dort aus einen neuen Asylantrag zu stellen.
Die Ukraine gilt als sicheres Herkunftsland
Die Ukraine gilt – trotz anhaltender Konflikte – als sicheres Herkunftsland. Das hat die türkis-blaue Regierung unter dem ehemaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) im Februar 2018 so beschlossen. Überdies biete gute Integration keine rechtliche Grundlage dafür, hierbleiben zu dürfen, betont man im BFA.
Manfred Schiffner, der Anwalt der Familie, sieht das anders: „Das ist ein extremer Härtefall und widerspricht den Menschenrechten. Für mich ist völlig unverständlich, warum bisher keine Beschwerde bei den Höchstgerichten (Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof) eingereicht wurde.“ Er hat den Fall erst vor einer knappen Woche übernommen und möchte diesen nun neu aufrollen. Seit Tagen versucht er, Einblick in den Akt zu bekommen. Erst dann könne die genaue weitere Vorgehensweise geplant werden. Der Anwalt ist jedenfalls „zuversichtlich“, dass die Familie einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen wird.
Weniger optimistisch zeigt sich Markus Reiter, Bezirksvorsteher im 7. Bezirk (Grüne), der ebenfalls bei der Demo war: „Es gibt viele ähnliche Fälle, in denen es nicht gelungen ist, ein Bleiberecht zu erwirken“, und weiter: „Wir dürfen nicht nur den Fluchtgrund beurteilen, sondern auch den Einzelfall und die Integration“.
„Wenn ein Kind hier geboren ist, muss es bleiben können“
Wird sich nun, da die Grünen Teil der Regierung sind, am Entscheid in Fällen wie diesem etwas ändern? „Die Gesprächsbasis ist eine andere, wir müssen das dazu nutzen, den Koalitionspartner mit diesen offenen Themen zu konfrontieren. Wenn ein Kind hier geboren ist, muss es hier bleiben dürfen“, sagt Reiter, „das haben wir schließlich auch bei den Lehrlingen geschafft“.
*Laut einem UNO-Bericht aus dem Vorjahr verletzt Österreich internationale Menschenrechtsstandards unter anderem dadurch, dass Österreich die Schubhaft für Kinder über 14 Jahren ermöglicht.