Acht junge Menschen erzählen, wo sie Wien, Österreich, die Welt und sich selbst in zehn Jahren gerne sehen würden. Gianmaria Gava hat die Erzählenden fotografiert, Ernst Schmiederer ihre Berichte aufgezeichnet.
Samedino Ramadanoski, Handelsschüler, ist vor 19 Jahren in Wien zur Welt gekommen und sieht seine Zukunft auf großen Bühnen:
Aufgewachsen bin ich im 11. Bezirk, das ist mein Zuhause. Ich will jetzt erst die Handelsschule abschließen und nachher vielleicht noch eine Lehre mit Matura anhängen. Vielleicht lerne ich Einzelhandelskaufmann bei Lidl. Die zahlen gut. Außerdem bieten sie faire Arbeitszeiten, tolle Aufstiegschancen und dazu noch die Möglichkeit, in Baden Württemberg in einem Studium zum Verkaufsleiter ausgebildet zu werden. In Wahrheit will ich aber ein Star werden. Einer, den jeder kennt. Der auf großen Bühnen auftritt. Der nicht schlecht verdient. Der andere inspiriert. Der gelobt wird und trotzdem am Boden bleibt. Bühne ist wichtig für mich. Da kann ich mich präsentieren, so zeigen, wie ich bin. Seit sechs Jahren trete ich als Beatboxer auf. Als Mundakrobat bin ich ganz ok, glaube ich. Ich kann etwas herzeigen, wo die Leute sagen: wow, cool. Nächstes Jahr kommt ein Film in die Kinos, Siebzehn, in dem ich die männliche Hauptrolle spiele, einen 18jährigen names Mesut. Die Matura ist also mein Backup, wenn ich kein Star werde. In zehn Jahren werden wir sehen, ob ich das geschafft habe. Ich bin gläubig, glaube an Allah. Wer weiß, wo mich Gott eines Tages hinführt.
Meine Großeltern kamen vor vierzig Jahren aus Mazedonien nach Wien. Die wollten ein besseres Leben. Heute sind sie gerade sechzig Jahre alt, Pensionisten, österreichische Staatsbürger. Ich wohne noch bei meinen Eltern. Papa war bei der MA48 beschäftigt. Mama hat gesundheitliche Probleme, sie darf nicht arbeiten. Essen gehe ich am liebsten zu meiner Oma. Alles schmeckt gut bei ihr. Ich spare Monat für Monat 50 Euro, damit ich in sechs Jahren genug für eine Wohnung habe. Geld ist wichtig. Man kann nicht einfach heiraten und ein Kind zeugen. Man braucht einen Plan.
Wien ist gar nicht schlecht. Alles klar, alles Bombe hier. Ich bin froh, dass ich nicht in Syrien oder Afghanistan lebe. Hier kann ich schlafen, solange ich will. Ich krieg eine gute Bildung. Ein bissl mehr Sport in der Schule wäre gut. Mehr Hochhäuser in der Stadt auch. Ein bisschen moderner könnte alles sein. Ich weiß, dass jetzt die Bildungsbudgets überall gekürzt werden. Und ich hoffe, dass das in zehn Jahren wieder anders sein wird. Wenn mehr Migranten kommen, dann wird auch die FPÖ wieder schwächer. Die erste Generation der Flüchtlinge hat es schwer. Die Eltern werden als Reinigungskräfte arbeiten müssen, Badezimmer putzen. Aber ihre Kinder werden hier in die Schule gehen. Und aus denen wird was neues hier. Die haben eine gute Zukunft. Noch sitzen sie in irgendwelchen Lagerhäusern, wo sie notversorgt werden. Aber nächstes Jahr haben sie vielleicht schon Arbeit. Und eine Wohnung. Und eine Bankomatkarte.
Yuria Knoll, 19 Jahre, Schülerin, kam in Japan zur Welt, bewegt sich im Rollstuhl durch Wien und hofft auch auf geistige Barrierefreiheit:
Wer weiß, ob ich in zehn Jahren noch in der Stadt sein will. Keine Ahnung. Ich bin viel unterwegs. Vor fünf Jahren war ich noch in Salzburg. Aber sollte ich in noch hier sein, dann wünsche ich mir viel Veränderung. Mein Vater ist vergangenes Jahr im Alter von 55 gestorben. Anfangs habe ich mir eingeredet, er hätte ein langes Leben gehabt. Aber das stimmt nicht. Menschen werden im Normalfall heute mindestens 75. Da fehlen also 20 Jahre – soviel Zeit, wie ich bis jetzt hatte. Insofern sind zehn Jahre lange genug, dass man wirklich etwas verändern, verbessern kann. Vielleicht nicht die ganze Welt. Aber Wien.
Also. Von uns Jungen wünsche ich mehr Beteiligung. Ich kann zwar verstehen, dass sich heute jeder zweite fragt, warum er überhaupt wählen gehen soll. Dass man sagt, ich habe keinen Bock auf euch. Aber da muss sich die Politik nun an der Nase nehmen: wenn Menschen so abgestoßen sind, da muss man schon sehr viel Blödsinn gemacht haben. Deshalb ist der Link zwischen Politik und Bildung besonders wichtig. Da muss sich ganz viel tun. Die Schule muss positiv ausgerichtet werden. Bei uns werden immer noch Fehler rot angestrichen, während man in anderen Ländern positive Dinge lobt. Hier erwartet man, dass sich Kinder mit zehn oder 14 Jahren für eine Schulausbildung entscheiden, die später mal zu ihrem Beruf passt. Das ist idiotisch. Jeder Mensch ist anders, Schule braucht Individualität und Toleranz.
Ich habe Zerebralparese, eine Störung des Nervensystems und der Muskulatur im motorischen Bereich. Ich bin auf den Rollstuhl angewiesen. Gerade habe ich hier – mitten im 1. Bezirk – gesehen, wie Arbeiter am Boden knieend in einer Gasse auf die ganze Länge hin Kopfsteinpflaster verlegt haben. Denkt eigentlich irgendjemand mit? Man sollte endlich die Gehsteige abflachen, zumindest mal hier im Zentrum, und nicht noch weitere Hürden bauen. Und könnten die Wiener Linien bitte dafür sorgen, dass die Lifte in den U‑Bahnen auch funktionieren? Das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Ich arbeite gerade in einer Produktion am Volkstheater mit. In diesem Haus gibt es kaum Lifte. Und die, die dort sind, hängen immer wieder mal. Der Techniker hat mir erklärt, dass ohnehin nur wenige Rollstuhlfahrer ins Theater kommen. Kein Wunder, wenn sie nicht reinkönnen. Diese Grundeinstellung ist typisch. Ein Busfahrer, der nicht aussteigt, obwohl er weiß, dass er mir die Rampe zum Einsteigen runterfahren müsste. Das ist alles so österreichisch, so verkorkst. Damit sollten wir aufhören. Lifte, Rampen, Barrierefreiheit – das ist ein breites Programm. Wenn wir das schaffen, dann kann viel passieren.
Und: Es ist doch leider so, dass immer diejenigen, die weiter unten sind, Dinge ausbaden müssen, die jene verbockt haben, die weiter oben sind. Lehrpläne. Bildungsnotstand. Politikversagen. Das ist ungerecht und sollte sich dringend ändern. Wenn Entscheidungsträger wirklich wüssten, was sie mit ihren Entscheidungen auslösen, dann würden sie vielleicht anders arbeiten.
Und zuletzt: Warum braucht man die österreichische Staatsbürgerschaft, um hier zu wählen? Wie doof ist das denn? Ich hab sie geerbt, weil mein Vater Österreicher war. Ist das demokratisch?
Laura Schoch, 27, wuchs in Wien auf, ist Vorsitzende der Bundesjugendvertretung, leitet bei den „Kinderfreunden“ das Hilftsprojekt connect und schätzt Wortklauberei:
Mit 18 habe ich die Schule abgebrochen, aber noch schnell eine dreijährige Knödelakademie abgeschlossen. Inzwischen habe ich längst die Berufsreifeprüfung gemacht und studiere schon ein Weile, Kultur- und Sozialanthropologie sowie Jus. Als 15jährige bin ich in die Sozialistische Jugend eingetreten. Zuletzt war ich SJ-Frauensprecherin. Inzwischen bin ich zum zweiten Mal als eine von vier Vorsitzenden der Österreichischen Bundesjugendvertretung gewählt worden. In diesem Rahmen sind Arbeitsgruppen zu beschicken, die mitunter auch sehr konkret zum Gesetzwerdungsprozess beitragen. Dabei habe ich Frauen kennengelernt, die als Juristinnen richtig gut waren und mich von Anfang an eingebunden haben. Ich mag Sprache und kann mich gut in Wortklaubereien vertiefen. Ich gehe also davon aus, dass ich mein Jus-Studium auch einmal fertig mache.
Ich bin jetzt seit zwölf Jahren politisch aktiv und habe einen grundsätzich positiven Blick auf die Welt. Ich bemühe mich, immer Sachen zu tun, die ich mag. Ich habe zwar keine Ahnung, was ich in zehn Jahren machen werde. Aber ich bin zuversichtlich, dass es immer noch Sachen sein werden, die ich mag, die Sinn machen. Dinge, die mit dem zusammenpassen, wie ich die Welt sehe. Und die wird, so hoffe ich doch, 2025 eine bessere sein.
Ein Kernproblem unserer Zeit: viele Menschen haben nicht das Gefühl, dass sie mitgestalten könnten. Das muss sich definitiv ändern, sonst kriegen wir wirklich ein Problem. Wir müssen Strukturen schaffen, die für mehr Menschen offen sind. Das muss man den Parteien klar machen. Mitgestalten, das betrifft aber auch unseren Umgang miteinander, die Frage, wie sich Zusammenleben gestaltet. Wie man Empathie und Solidarität empfindet und lebt. Das können Menschen natürlich nur dann tun, wenn sie auch ein bissl Luft haben, um sich einzubringen. Wenn sie also aus dem Kastl rausschauen können, wenn sie genug verdienen und sozialversichert sind. Ich bin diesbezüglich zuversichtlich – sonst könnte ich nicht tun, was ich tue.
Seit September bin ich bei den „Kinderfreunden“ angestellt, um die connect-Projekte zu organisieren. Am Westbahnhof, in Traiskirchen, in Erdberg, am Flughafen Schwechat sowie demnächst noch an zwei weiteren Standorten organisieren wir Bildungs- und Freizeitangebote für junge Flüchtlinge und ihre Eltern. Als sich im Burgenland Rot-Blau gebildet hat, war ich wie viele andere auch wirklich fassungslos. Dass Wien gesagt hat, so nicht, das war politisch für mich sehr wichtig. Dass die offene Haltung gegenüber Flüchtlingen in dieser Stadt bei den Wahlen politisch nicht abgestraft wurde, das macht mich doch hoffnungsfroh.
Ruiji Zhao, 20, in Wien geboren und aufgewachsen, studiert an der WU Wien Internationale Betriebswirtschaftslehre sowie Vergleichende Literaturwissenschaften an der Hauptuniversität:
Ich liebe Wien. Ich bin froh, dass ich hier aufgewachsen bin. Ich habe die Geburtslotterie gezogen. Das muss man wertschätzen. Es kann allerdings gut sein, dass ich in zehn Jahren nicht hier, sondern in China lebe. Ein Umzug dorthin scheint mir jedenfalls nicht unrealistisch.
Mein Vater kam unter Mao zum Studium nach Wien, musste nach kurzer Zeit aber zurück und für ein halbes Jahr im Rahmen der Bildungspolitik am Land arbeiten. Meine Mutter hatte in China Germanistik studiert und in Österreich Wirtschaft. Kennengelernt haben sich die beiden an der Wirtschaftsuni Wien. Indem ich jetzt an der WU Internationale Betriebswirtschaftslehre studiere, geht für sie auch ein Wunsch in Erfüllung. Für mich war die Studienwahl eine komplizierte Entscheidung. Ich hatte überlegt, an der Angewandten Schreibkunst zu studieren. Dafür hätte ich mich aber komplett der Kunst verschreiben müssen. Ich möchte später einmal die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Österreich ausbauen. Mein Vater exportiert Passivhaus-Technologie nach China, das ist gut so. Ich sehe aber, dass in China noch viele Probleme zu lösen sind. Und dazu bin ich nach meinem Studium bereit. Literatur ist meine Leidenschaft. Daher ist das Studium der Literaturwissenschaft eine Art Gegengewicht zum WU-Betrieb. Ich betrachte das als Freizeitaktivität.
Mir ist das wichtig, was jetzt gerade passiert. Ich will jeden Moment bewusst erleben, weil es später dafür zu spät sein wird. Man muss das Leben wahrnehmen und empfänglich dafür sein. Von der Zukunft habe ich entsprechend vage Vorstellungen. Durch die Entwicklungen in China verschiebt sich das weltweite Machtgefüge. Die USA werden nicht die dominante Weltmacht bleiben. Die Menschen in China sind teils sehr unzufrieden. Das habe ich bei meinen Besuchen dort gesehen. Sie sind begeistert von einem Amerika, das es früher einmal gab, von dem Land der Freiheit. Zumindest in Bejing tendieren viele Chinesen zum Westen. Natürlich will ich miterleben, was sich dort entwickelt.
Aufgrund meines Aussehens wurde ich in Wien immer wieder beschimpft. Man hat sich über mich lustig gemacht, zuhause im Bezirk, in Meidling. Es gab Vorfälle. Verbal. Physisch. Die Ausländerfeindlichkeit ist ein großes Problem in dieser Stadt. Die Rechtspopulisten und die Hetzer machen mir Angst. Wären die in Wien an der Macht, würde die Stadt sicher nicht so funktionieren. Dass die anderen Parteien denen soviel Gelegenheit geben, sich beliebt zu machen, verstehe ich nicht. Man muss sie bekämpfen. Ob dies geschehen wird? Ich bin skeptisch.
Ich schreibe. Keine Geschichten mehr, sondern Tagebuch. Man muss etwas erlebt haben, um eine Geschichte zu schreiben. Ich glaube, dass ich in zehn Jahren das Zeug dazu haben werde, einen Roman zu schreiben. Bis dahin werde ich sprachlich auf ein entsprechendes Niveau kommen und dann auch etwas zu sagen haben. Ein Roman ist mein Ziel für die nächsten zehn Jahre.
Maria Ritter, 20, Studentin, ist im 15. Wiener Gemeindebezirk aufgewachsen und wünscht sich eine Welt ohne Sexismus:
Seit einem Jahr wohne ich im 16. Bezirk in einer WG. Wir sind zu dritt und haben eine Katze. Davor war ich sechs Monate in Brüssel Aupair und habe gesehen, dass mein Französisch noch verbessert werden kann. Jetzt studiere ich eben Romanistik. Ich werde für ein, maximal zwei Semester mit dem Erasmus-Programm nach Frankreich gehen, am liebsten nach Lyon. Was ich danach beruflich mache, das ist die große Frage. Ich habe das Gefühl, dass sich das so entwickeln wird, wie es sich bei meinen Eltern entwickelt hat. Meine Mama hat ihr Studium abgebrochen, wurde Buchhändlerin und hat später lange als Deutschlehrerin gearbeitet. Jetzt ist sie Malerin. Mein Stiefvater kam als Zivildiener in das Unternehmen, in dem er heute Geschäftsführer ist. Ich bin zuversichtlich, dass sich das auch bei mir irgendwie so entwickelt.
Was Stadt und Staat anlangt, erwarte ich mir eher banale Sachen: mehr Gemeindebauten, einfacheren Unizugang. Die technischen Entwicklungen, von Robotern bis hin zu social media, machen mir auch keine großen Kopfzerbrechen: da wird sich viel tun und vieles grundlegend zum Besseren verändern. Was mich wirklich beschäftigt ist die Entwicklung unserer Gesellschaft. Ich kenne alle möglichen Menschen, die ganz unterschiedliche Ängste haben. Angst vor dem Älterwerden. Angst vor der Verantwortung, die auf einen zukommt. Wird man einen Job finden, der einem halbwegs gefällt? Kann man sich ohne Unterstützung der Eltern selbst erhalten? Darüber hinaus sehe ich, wie sich ganz allgemein Angst und Frustration aufbaut. Und das wird sich irgendwann, irgendwie entladen müssen. Zu hoffen bleibt, dass das nicht allzu schlimm wird. Aber danach wird es wohl besser. Es gibt so viele gescheite, kritische, innovative, offene und kreative Menschen in Wien, in Europa, in der Welt – ich kann und will mir einfach nicht vorstellen, dass sich das gesellschaftliche Klima in den nächsten zehn Jahren negativ entwickelt. Andererseits frage ich mich natürlich auch, ob ich mich mit meiner positiven Denkweise nur selbst davon bewahre, negative Entwicklungen zu erkennen.
Es gibt auch viele Trottel. Machtgierige. Rassisten. Sexisten. Ich hoffe natürlich, dass man einen großen Teil von denen umdrehen kann. Wenn man heute über das Gendern oder über Gleichberechtigung spricht, kommt jedem das Gähnen. Das kann kein Mensch mehr hören. Aber natürlich will ich als Frau gleich viel verdienen wie ein Mann. Natürlich will ich mich als Frau genau so viel trauen dürfen wie die Männer. Sobald eine Frau ihre Wohnung verlässt wird dieses Thema akut: es nehmen sich immer noch unfassbare viele Männer das Recht heraus, einem etwas Blödes nachzurufen, einen anzufassen. Meist hört man nur so Sachen wie: he, Schlampe, wohin gehst Du? Erschreckend ist aber die Alltäglichkeit dieser Situationen. Ich und die meisten engen Freundinnen wurden schon mindestens einmal von einem Fremden auf eindeutig sexuelle Art angetatscht. In zehn Jahren könnte ich Mutter einer Tochter sein. Dass diesem Mädchen dann auch noch irgendwann so etwas passieren wird, ist eine grauenhafte Vorstellung. In dieser Hinsicht muss ich meinen grundsätzlichen Optimismus mit einem Fragezeichen relativieren.
Vinzent Rest, 25, hat in Kopenhagen Lebenserfahrung gesammelt und sucht jetzt in Wien Arbeit:
Ich bin im Sommer aus Dänemark zurückgekommen, wo ich das Studium der Politischen Ökonomie mit dem Master abgeschlossen habe. Der Staat hat mir dort wie allen anderen Studierenden auch monatlich 500 Euro Stipendium gewährt. Als EU-Bürger musste ich dafür noch 43 Stunden pro Monat arbeiten. Weil dort aber jeder irgendetwas arbeitet, fällt das nicht auf. Da gibt es großen Nachholbedarf in Österreich: wir müssen den Arbeitsmarkt öffnen. Zweitens: Es ist einfacher in Dänemark ohne Dänisch-Kenntnisse zu arbeiten als in Österreich ohne Deutsch-Kenntnisse. In Kopenhagen spricht der Supermarkt-Kassierer selbstverständlich passables Englisch. In Wien ist das anders. Wir müssen also aufpassen, dass wir die Menschen, die etwa im Supermarkt arbeiten, nicht verlieren. Ein einfaches Mittel? Das Synchronisieren von Filmen abschaffen! Das hat einen großen Bildungseffekt. Man kriegt Sprachen so nebenher mit. Und auch als Zeichen ist es wichtig: das Synchronisieren kommt ja aus einer Zeit als Sprachkenntnisse noch ein Elitegut waren.
Die demografische Entwicklung lese ich als Negativtrend für die FPÖ. Junge Menschen und solche mit Migrationshintergrund wählen eher nicht die xenophoben Parteien. Das heisst aber noch nicht, dass Marginalisierung und Xenophobie dadurch weniger werden. Um das zu erreichen, müssen wir vor allem verstehen lernen, dass Kultur Diskurs ist: man gibt es etwas ein und kriegt etwas heraus. Im Moment pflegen wir zwei Narrative, die nebeneinander her laufen. Da gibt es einerseits die Erzählung vom Modernisierungsverlierer. Und der gegenüber steht die der Generation Erasmus. Wichtig wäre es, die beiden unter einen Hut zu bringen. Erasmus ist ein Minderheitenprogramm, das dringend erweitert werden muss. Zugleich muss aber klar gemacht werden, dass Zuhausebleiben nicht automatisch zur Engstirnigkeit führt. Und wie wir etwa an der FPÖ-Jugendsprecherin erkennen: wer eine Zusatzausbildung in Harvard absolviert, entwickelt nicht zwangsläufig eine Sensibilität für Minderheitenprobleme.
Am wichtigsten wäre es, dass wir endlich eine starke Kultur der Öffentlichkeit entwickeln. Wir brauchen Transparenz. Und die braucht Mut. Zu fragen, was jemand verdient, muss im öffentlichen Bereich selbstverständlich sein. Unternehmen, die Förderungen beziehen, müssen in Bezug auf Einkommen und Vermögenswerte transparent sein. Und natürlich sollte man auch wissen, wie das Viertel, in dem man lebt, sozioökonomisch ausschaut. Und schließlich: wie kommt es, dass ich als zugezogener Salzburger Bauernbub in Wien so viel besser gelitten bin, als all die Menschen, die hier mit ihrem Migrationshintergrund leben und nicht wählen dürfen. Ich war noch keine zwei Wochen in Dänemark als ich schon zu den Kommunal- und Regionalwahlen zugelassen war. Überhaupt: Warum ist es so schwierig, hier Staatsbürger zu werden? Damit schafft man die Parallelgesellschaften vor denen immer gewarnt wird. Es gibt viele Dinge, die wir angehen müssen. Wenn ich 35 Jahre alt bin, will ich tatsächlich nur 37,5 Stunden in der Woche arbeiten müssen. Es muss selbstverständlich werden, dass in großen Unternehmen ab 17 Uhr keine Meetings mehr angesetzt werden – da holt man nämlich seine Kinder aus dem Kindergarten.
In Dänemark haben sie bei vielen dieser wichtigen Fragen gute Lösungen gefunden. Davon können wir ebenso lernen, wie bei den kleinen, eher banalen Dingen. Man muss wirklich nicht unbedingt die Polizei rufen, wenn es bei einer Party beim Nachbarn um halb zwölf noch laut ist. Man muss nicht aus allem sofort ein Drama und einen Skandal machen.
Sulaiman Khawar, 28, ist als Zehnjähriger aus Afghanistan nach Wien gekommen. Jetzt hat er unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut:
Mein Bruder hat mich nach Gänserndorf mitgenommen, wo er in einer Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Nachtdienste schob. Danach habe ich diesen Job zweieinhalb Jahre lang selber gemacht, drei Nächte jede Woche, von 20.00 bis 8.00 Uhr früh. 14 Burschen, Ägypter, Syrer, Afghanen. Ich habe eine HTL absolviert und studiere Wirtschaftsinformatik, aber ich hatte keine Ausbildung, die mir in Gänserndorf geholfen hätte. Ich habe 30 Burschen kennengelernt und gesehen, wie es ihnen geht, wenn sie nachts weinten und schlafwandelten. Sie haben furchtbare Dinge erlebt auf ihren Reisen. Sie haben mir ihre Geschichten erzählt. Formal waren diese Erzählungen oft so wie die Märchen, die man ihnen als Kinder in Afghanistan erzählt hat, damit sie lernen, Gut und Böse auseinanderzuhalten. Mich haben sie zu meinem eigenen Ich zurückgebracht. Ich kenne diese Märchen gut, weil ich aus Afghanistan komme. Meine Familie hat sich auf den Weg gemacht als ich sieben Jahre alt war. Wir hatten eine lange Zwischenstation in Moskau als dort noch die Anarchie herrschte. Der Rubel war am Boden, die Schulen waren überfüllt, überall sah man Drogen und Alkohol. Als Zehnjähriger bin ich hier in Wien angekommen. Und jetzt musste ich einsehen, dass ich den Burschen in Gänserndorf nicht helfen kann. Es war auf die Dauer zu belastend. Ich bekam Alpträume. Im Alltag konnte ich mit den Emotionen irgendwie umgehen. Aber sobald ich mich hingelegt habe, kam alles über mich. Heute habe ich größten Respekt vor Sozialpädagogen.
Vorurteile sind unser größtes Problem, ein Menschheitsproblem. Nicht nur Rassisten haben Vorurteile. Alle Menschen haben sie. Auch die Burschen in Gänserndorf. Das fängt bei der Religion an: der macht dies oder jenes falsch. Und hört beim Bodenwischen nicht auf: der putzt nicht richtig. Manche sind so in ihre Werte verliebt, dass sie beleidigt sind, wenn man die hinterfragt. Ich habe in Österreich nie den Zwang gespürt, dass ich das Christentum besonders akzeptieren müsste. Das nennt man Aufklärung. Ein Schritt, der der islamischen Welt noch bevorsteht. Was in Europa einst der Buchdruck ermöglicht hat, könnte dort durch das Internet passieren. Das ist ein Geschenk an die Menschheit, weil sich ein Afghane und ein Amerikaner da zusammentun und Vorurteile abbauen können. Die größte Chance dieser Tage liegt jedenfalls in der Bildung: wir müssen den Analphabetismus bekämpfen. Wir müssen Schulen bauen. Wenn wir uns jeden Tag bemühen, den Menschen das Lesen beizubringen, dann haben wir in zehn Jahren eine bessere Welt. Bildung und Lehre, allein damit können wir die Welt verbessern.
Wer weiß, wann es in Afghanistan Frieden gibt. Ich wünsche mir, dass es im Lauf der nächsten zehn Jahre so weit ist. Ich hoffe, dass ich dann dahin fahren und chillig irgendwo vortragen kann. Ich hoffe, dass ich dann auch in den entlegensten Gegenden im Anzug stehen und den Leuten etwas beibringen kann, ohne dass sie sagen: Du bist ein Ungläubiger.
Amina Wafler, 18, ist in Wien geboren, studiert Kultur- und Sozialanthropologie und fürchtet, dass der Klimawandel aus dem Fokus gerät:
Es wird sich sehr viel ändern in den nächsten zehn Jahren. Es hat sich ja auch in den letzten zehn Jahren sehr viel verändert. Damals wurde meine Mama immer auf der Straße angesprochen, wenn sie mit ihren zwei kleinen schwarzen Kindern unterwegs war. Ständig wollten irgendwelche Menschen wissen, wo wir herkommen. Blöde Blicke, blödes Gestänker, das war normal für uns. Unsere Mama ist weiß, unser Vater stammt aus dem Kongo. Heute sehen die Leute, dass das kein Problem ist. Jetzt haben sie ein neues Thema, jetzt werden andere Leute angestänkert. Frauen mit Kopftüchern. Leute, die in der U‑Bahn laut in einer fremden Sprache telefonieren. Ich sehe das alles immer lieber optimistisch. Die Menschen in Wien haben inzwischen gelernt, dass sie nicht nur von Österreichern und Österreicherinnen umgeben sind.
Eigentlich wollte ich nach der Matura ein Jahr in London als Aupair arbeiten. Das hat sich aber so kurzfristig zerschlagen, dass ich mir innerhalb einer Woche eine Alternative überlegen musste. Jetzt studiere ich Kultur- und Sozialanthropologie. Da gibt es ein Wahlmodul Migration, Flucht, Integration. Dieses Thema hat mich schon in meiner vorwissenschaftlichen Arbeit im Rahmen der Zentralmatura beschäftigt. Ich habe mich eingelesen, wissenschaftliche Konferenzen besucht, Projekte angeschaut und zwei Wochen Workshop bei der Young Caritas gemacht. Im Rahmen der Caritas gebe ich seit eineinhalb Jahren auch Nachhilfe für Flüchtlingskinder. Zur Zeit betreue ich Suado, Abdi und Amina, die aus Somalia und Niger kommen.
Es fühlt sich im Moment so an, als ob die Menschheit einen großen Umschwung erlebt, der unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Da gibt es auf der einen Seite eine Welle der Angst und der Verunsicherung, auf der anderen Seite aber auch den Willen, sich all dem zu stellen und die komplexen Zusammenhänge, auf die so viele mit Angst reagieren, zu verstehen. Auch deshalb habe ich mir dieses Studium ausgesucht. Weil ich kaum sagen kann, wie ich mir mein eigenes Leben in drei Jahren vorstelle, kann ich natürlich auch keine Prognosen darüber abgeben, wie sich die Welt in den nächsten zehn Jahren entwickeln wird. Ich habe aber ein paar Wünsche: Die Angst soll weniger werden, die brauchen wir nämlich nicht. Ängste entstehen aus Unwissen. Daher muss in den Schulen besser aufgeklärt werden über die Situation, in der wir heute leben. Jugendliche müssen so ausgebildet werden, dass diese Ängste gar nicht erst entstehen, dass sie den Blödsinn nicht glauben, den ihnen manche einreden wollen. Und ganz allgemein hätte ich gerne mehr Offenheit, mehr Miteiander, weniger Gegeneinander, weniger Konkurrenzdruck, weniger gegenseitig ausstechen. Man sollte Bezirksgrenzen und Ländergrenzen nicht mehr so ernst nehmen.
Eine Thema macht aber auch mir besonders Angst: der Klimawandel. Es stellt sich doch wirklich die Frage, ob und wie menschliches Leben auf diesem Planeten in zehn Jahren noch möglich ist. Die Tatsache, dass dieses Thema nun so weit in den Hintergrund gerückt ist, macht mir Angst. Da bin ich leider nicht optimistisch.
(In einer gekürzten Fassung wurden diese Berichte in der Österreich-Ausgabe von DIE ZEIT (Ausgabe No. 46 vom 12. November 2015) publiziert. Und zwar im Rahmen einer „Drinnen“-Kolumne und eines Sonderteils „Österreich 2025“.)