0
 0,00 EUR 0 Produkte

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

homeDie Gesellschaft der Singularitäten
Freitag, 06. November 2015

Die Gesellschaft der Singularitäten

Zuletzt geändert am 23. Oktober 2022
Isolde Charim über Pierre Rosanvallons "Das Parlament der Unsichtbaren": eine Buchbesprechung, erschienen in der taz vom 27. Oktober 2015.

Das Par­la­ment der Unsichtbaren
Eine Bespre­chung von Isol­de Cha­rim, erschie­nen in taz​.de am 27.10.2015

parlament
(edi­ti­on IMPORT/EXPORT, Okto­ber 2015, 78 Sei­ten, € 9,90, im Buch­han­del oder auf Bestel­lung via info@gegenwart.org, Ver­sand € 2,10)

„Das Land fühlt sich nicht gehört. Das Land fühlt sich nicht ver­tre­ten“, so Pierre Rosan­vallon empha­tisch. Des­halb hat der fran­zö­si­sche Demo­kra­tie­theo­re­ti­ker ein Pro­jekt ins Leben geru­fen: „Racon­ter la vie“. Hier sol­len jene, die nicht gehört wer­den, jene, die sich ver­ges­sen, unver­stan­den, aus­ge­schlos­sen füh­len aus die­ser ach so funk­tio­nie­ren­den Welt, ihr eige­nes Leben erzäh­len. Die­se Berich­te wer­den gesam­melt auf einer eige­nen Web­site (www​.racont​er​la​vie​.fr) und in Büchern ver­öf­fent­licht. Ziel ist es, die Gesell­schaft „les­bar“ zu machen.

Aus­lö­ser für die­ses Mam­mut­pro­jekt ist die tie­fe, alar­mie­ren­de Spal­tung der Gesell­schaft. Die lei­sen Stim­men blie­ben unge­hört, die bana­len Lebens­läu­fe miss­ach­tet. Genau hier hake der rech­te Popu­lis­mus ein. Dies mache ihn so erfolgreich.

Für Rosan­vallon ist das ein rela­tiv neu­es Pro­blem, ein Pro­blem des „Zeit­al­ters der Sin­gu­la­ri­tä­ten“. Die alte Klas­sen­ge­sell­schaft mit ihren sta­bi­len, klar abge­grenz­ten Blö­cken hat den Indi­vi­du­en eine gesam­te Dar­stel­lungs­pa­let­te gebo­ten: Orga­ni­sa­tio­nen, eine adäqua­te poli­ti­sche Ver­tre­tung, eine Spra­che, Lie­der. Eine gan­ze Seman­tik zur Ein­bin­dung in die Gesell­schaft. Im Zeit­al­ter der Sin­gu­la­ri­tä­ten hin­ge­gen mit ihrem Stre­ben „nach einer zur Gän­ze per­sön­li­chen Exis­tenz“ funk­tio­niert die­se Inte­gra­ti­on nicht mehr. Hier gibt es kei­ne adäqua­te Reprä­sen­ta­ti­on der radi­kal Ein­zel­nen mehr. Zuge­hö­rig­keit und Ungleich­heit haben sich grund­le­gend ver­än­dert. Teil der Gesell­schaft zu sein heißt heu­te, wahr­ge­nom­men zu wer­den. Das ist die Wäh­rung der Demokratie.

Nicht wahr­ge­nom­men wer­den bedeu­tet dem­nach aus­ge­schlos­sen sein. Des­halb sei heu­te die Sehn­sucht nach einer gerech­ten Gesell­schaft ver­bun­den mit dem Wunsch nach Aner­ken­nung. Und genau hier müs­se, so Rosan­vallon, auch eine Erneue­rung der Demo­kra­tie anset­zen: bei jenen, deren Leben im Dun­keln blei­be, die nicht reprä­sen­tiert wer­den, die nicht sicht­bar sind. Des­halb nennt er sein Mani­fest auch: „Das Par­la­ment der Unsichtbaren“.

Ambi­tio­nier­tes Ziel des Pro­jekts ist es, die „gesam­te Gesell­schaft aus der Unsicht­bar­keit zu holen“, das Wis­sen von­ein­an­der zu beför­dern. Lan­ge Zeit habe eine gewis­se kul­tu­rel­le Homo­ge­ni­tät als Ersatz für die­ses Bedürf­nis nach ech­ter Kennt­nis gedient. In hete­ro­ge­nen Gesell­schaf­ten fehlt offen­bar die­se Fik­ti­on, die laut Bene­dict Ander­son die „ima­gi­ned com­mu­ni­ty“ der Nati­on funk­tio­nie­ren ließ: die Illu­si­on, die Mit­glie­der einer Nati­on wür­den alle ande­ren Mit­glie­der ken­nen. Rosan­vallon ver­sucht sich an der Her­ku­les­auf­ga­be, die­se brü­chig gewor­de­ne Fik­ti­on in die Rea­li­tät zu holen.

Die Dring­lich­keit erwächst dem Pro­jekt als expli­zi­te Abwehr des vor­an­schrei­ten­den Rechts­po­pu­lis­mus. Denn bei den „Unsicht­ba­ren“ wür­den die Rech­ten fischen und erfolg­reich sein. Statt die fik­ti­ve Figur eines ein­heit­li­chen, geein­ten Vol­kes zu mobi­li­sie­ren, sol­le viel­mehr das „Volk im Plu­ral“, die Viel­falt und Viel­zahl sei­ner kon­kre­ten Exis­ten­zen selbst zu Wort kommen.

Das Team um den Wie­ner Jour­na­lis­ten Ernst Schmie­de­rer, der selbst ein ver­gleich­ba­res Pro­jekt in Öster­reich gestar­tet hat, hat Rosan­vallons Mani­fest auf Deutsch her­aus­ge­ge­ben. Bei der Prä­sen­ta­ti­on in Wien wur­de Rosan­vallon mit Skep­sis kon­fron­tiert. Wer soll das alles lesen? Erzeugt dies nicht neu­en Frust, wenn die Geschich­ten ver­hal­len? Lässt sich die Gesell­schaft der Sin­gu­la­ri­tä­ten viel­leicht gar nicht mehr repräsentieren?

Rosan­vallon, der sein Pro­jekt expli­zit in eine Rei­he mit Fou­cault, Bour­dieu und der frü­hen Arbei­ter­be­we­gung stellt, kon­ter­te. Das Pro­jekt habe zwei Funk­tio­nen: eine the­ra­peu­ti­sche. Es wür­de den Ein­zel­nen ermäch­ti­gen und eman­zi­pie­ren. Und eine kogni­ti­ve. Es wür­de Poli­ti­kern Infor­ma­tio­nen über neue Lebens- und Arbeits­wel­ten lie­fern. Eine Quel­le, an die die fran­zö­si­sche Regie­rung bereits ando­cke. Rosan­vallons Ziel geht dar­über hin­aus. Er sieht dar­aus eine neue sozia­le Bewe­gung erwachsen.

Isolde Charim, Pierre Rosanvallon, Jessica Beer

Prä­sen­ta­ti­on 12.10.2015: Isol­de Cha­rim, Pierre Rosan­vallon, Jes­si­ca Beer

Teilen Sie diesen Beitrag
© 2024 blinklicht media lab
blinklicht medien rat & tat gmbh
Heinestraße 34/1b
1020 Wien
UID: ATU 62892007
FN: 283345i
usercartmagnifiermenu-circlechevron-down-circle
linkedin facebook pinterest youtube rss twitter instagram facebook-blank rss-blank linkedin-blank pinterest youtube twitter instagram