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Dienstag, 23. April 2013

Paulus Hochgatter: WIR, zwischen Karl May und Mark Twain

Zuletzt geändert am 23. Oktober 2022
Ein Projekt, das Jugendliche auffordert, ihre Geschichten zu erzählen, handschriftlich, in ein Heft hinein, ist mutig und klug, sagte Paulus Hochgatterer in seiner Festrede im Rathaus zu "10 Jahre Hauptbücherei". Mutig? Klug?

„Vor drei Wochen hat­te ich das Ver­gnü­gen, Chris­ti­an Jahl in sei­nem Reich zu besu­chen. Er führ­te mich durch das Gebäu­de, erklär­te mir die ein­zel­nen Berei­che und ver­sorg­te mich mit Zah­len, münd­lich und schrift­lich: Besu­cher, Bücher, elek­tro­ni­sche Medi­en, tau­sen­de, aber­tau­sen­de. Ich nahm die leben­di­ge Atmo­sphä­re wahr, jene Mischung aus Gelas­sen­heit, Kon­zen­tra­ti­on und Fröh­lich­keit, wie wir sie zum Bei­spiel von Zehn­jäh­ri­gen ken­nen, und staun­te über die Dimen­sio­nen des Baus, vor allem ange­sichts der Erin­ne­rung an mei­ne eige­ne Lese­so­zia­li­sa­ti­on in der Stadt­bü­che­rei Amstet­ten. Bei­na­he hät­te ich Chris­ti­an Jahl gefragt, ob er hin­sicht­lich Karl May mehr zu bie­ten habe als die 53 Bän­de, die dort damals vor­rä­tig waren; ich habe mich aber nicht getraut.

Im Gehen durch die Räu­me stan­den wir plötz­lich vor einer Haken­rei­he, an der auf Bügeln, wie Minia­tur-Kaf­fee­h­aus­zei­tun­gen, bunt gebun­de­ne Schul­hef­te im A5-For­mat hin­gen. Chris­ti­an Jahl erklär­te mir, das sei ein Pro­jekt des Wie­ner Jour­na­lis­ten Ernst Schmie­de­rer und sei­nes Medi­a­l­abs ‚Blink­licht’. Es hei­ße „Wir. Berich­te aus dem neu­en OE (also Öster­reich)“ und bestehe dar­in, dass Jugend­li­chen die Mög­lich­keit gege­ben wer­de, sich selbst dar­zu­stel­len, ihre Her­kunft, ihre Fami­lie, ihre Plä­ne und ihre Nöte. Die Jugend­li­chen wür­den auf­ge­for­dert, in ein Heft zu schrei­ben. Zir­ka 1500 hät­ten es schon getan, man­che über zwei Sei­ten, man­che über zehn.“

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„Ich nahm eins der Hef­te vom Haken und schlug es auf. Natür­lich könn­te man kokett sagen, man sol­le einen Kin­der­psych­ia­ter nicht nach so etwas grei­fen las­sen, und natür­lich war alles rei­ner Zufall. So oder so: ich las die Geschich­te eines aus Mon­te­ne­gro stam­men­den sech­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chens, das davon berich­te­te, wie wohl es sich hier in Wien von Anfang an gefühlt habe, ganz im Gegen­satz zu sei­nen Eltern. Die Mut­ter sei andau­ernd depri­miert gewe­sen, der Vater miss­mu­tig und aggres­siv. Schließ­lich habe er sie im Streit getö­tet, zu Hau­se, in der Küche. Jetzt sei die Mut­ter weg, der Vater im Gefäng­nis und sie selbst bei der Tan­te, der Schwes­ter der Mut­ter. Das sei schwie­rig; sie glau­be trotz­dem, dass sie es schaf­fen wer­de und ein­mal Kin­der­gärt­ne­rin wer­den könne.

Mir ist klar, dass die­se Geschich­te sin­gu­lär ist und in den rest­li­chen Hef­ten nicht in ers­ter Linie von Mord und Tot­schlag zu lesen sein wird. Trotz­dem hat es mög­li­cher­wei­se der Dra­ma­tik bedurft, um mich Huck­le­ber­ry Finn her­bei­as­so­zi­ie­ren zu las­sen und mir vor die­sem Hin­ter­grund vor Augen zu füh­ren, dass es hier wie dort um das Glei­che geht, um das Erlan­gen von nar­ra­ti­ver Auto­no­mie, manch­mal ohne die Eltern, manch­mal auch gegen sie. Ein Pro­jekt, das Jugend­li­che auf­for­dert, ihre Geschich­ten zu erzäh­len, hand­schrift­lich, in ein Heft hin­ein, ist mutig und klug; mutig, weil es den Anschein des Ana­chro­nis­mus ris­kiert, und klug, weil es mit dem Wis­sen ope­riert, dass das, was wir gewöhn­lich Iden­ti­tät nen­nen, in ers­ter Linie aus unse­ren Geschich­ten besteht. Und wo wären der Anschein des Ana­chro­nis­mus und eine Fül­le von iden­ti­täts­stif­ten­den Geschich­ten bes­ser auf­ge­ho­ben als in einer Bücherei?

Mark Twa­in hielt sich übri­gens vom Sep­tem­ber 1897 bis zum Mai 1899 in Wien bzw. in Kal­ten­leut­ge­ben auf, unter ande­rem, um sei­ner Toch­ter Cla­ra Kla­vier­un­ter­richt bei Theo­dor Lesche­tiz­ky zu ermög­li­chen. „Tom Sawy­er“ und „Huck­le­ber­ry Finn“ waren zu die­sem Zeit­punkt längst in vie­len Spra­chen erschie­nen und er war ein berühm­ter Mann. Etwa um die Mit­te sei­nes Auf­ent­hal­tes, am 1. Juni 1898, wur­de die Gür­tel­li­nie der Wie­ner Stadt­bahn eröff­net, und auf die Vor­stel­lung, Mark Twa­in könn­te an die­sem Tag unter dem Urban Loritz-Platz, also gewis­ser­ma­ßen genau unter der Haupt­bü­che­rei, durch­ge­fah­ren sein, möch­te man als Bücher­mensch nicht verzichten.“

(Aus­zug aus der Fest­re­de von Pau­lus Hoch­gat­te­rer, gehal­ten anläß­lich des Jubi­lä­ums „10 Jah­re Haupt­bü­che­rei“ im April 2013 im Wie­ner Rathaus)

Down­load: Gekürz­te Ver­si­on der Rede, abge­druckt im Fal­ter 16/13:
WIR-Hoch­gat­te­rer-Fal­ter-a8

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