„Vor drei Wochen hatte ich das Vergnügen, Christian Jahl in seinem Reich zu besuchen. Er führte mich durch das Gebäude, erklärte mir die einzelnen Bereiche und versorgte mich mit Zahlen, mündlich und schriftlich: Besucher, Bücher, elektronische Medien, tausende, abertausende. Ich nahm die lebendige Atmosphäre wahr, jene Mischung aus Gelassenheit, Konzentration und Fröhlichkeit, wie wir sie zum Beispiel von Zehnjährigen kennen, und staunte über die Dimensionen des Baus, vor allem angesichts der Erinnerung an meine eigene Lesesozialisation in der Stadtbücherei Amstetten. Beinahe hätte ich Christian Jahl gefragt, ob er hinsichtlich Karl May mehr zu bieten habe als die 53 Bände, die dort damals vorrätig waren; ich habe mich aber nicht getraut.
Im Gehen durch die Räume standen wir plötzlich vor einer Hakenreihe, an der auf Bügeln, wie Miniatur-Kaffeehauszeitungen, bunt gebundene Schulhefte im A5-Format hingen. Christian Jahl erklärte mir, das sei ein Projekt des Wiener Journalisten Ernst Schmiederer und seines Medialabs ‚Blinklicht’. Es heiße „Wir. Berichte aus dem neuen OE (also Österreich)“ und bestehe darin, dass Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werde, sich selbst darzustellen, ihre Herkunft, ihre Familie, ihre Pläne und ihre Nöte. Die Jugendlichen würden aufgefordert, in ein Heft zu schreiben. Zirka 1500 hätten es schon getan, manche über zwei Seiten, manche über zehn.“
„Ich nahm eins der Hefte vom Haken und schlug es auf. Natürlich könnte man kokett sagen, man solle einen Kinderpsychiater nicht nach so etwas greifen lassen, und natürlich war alles reiner Zufall. So oder so: ich las die Geschichte eines aus Montenegro stammenden sechzehnjährigen Mädchens, das davon berichtete, wie wohl es sich hier in Wien von Anfang an gefühlt habe, ganz im Gegensatz zu seinen Eltern. Die Mutter sei andauernd deprimiert gewesen, der Vater missmutig und aggressiv. Schließlich habe er sie im Streit getötet, zu Hause, in der Küche. Jetzt sei die Mutter weg, der Vater im Gefängnis und sie selbst bei der Tante, der Schwester der Mutter. Das sei schwierig; sie glaube trotzdem, dass sie es schaffen werde und einmal Kindergärtnerin werden könne.
Mir ist klar, dass diese Geschichte singulär ist und in den restlichen Heften nicht in erster Linie von Mord und Totschlag zu lesen sein wird. Trotzdem hat es möglicherweise der Dramatik bedurft, um mich Huckleberry Finn herbeiassoziieren zu lassen und mir vor diesem Hintergrund vor Augen zu führen, dass es hier wie dort um das Gleiche geht, um das Erlangen von narrativer Autonomie, manchmal ohne die Eltern, manchmal auch gegen sie. Ein Projekt, das Jugendliche auffordert, ihre Geschichten zu erzählen, handschriftlich, in ein Heft hinein, ist mutig und klug; mutig, weil es den Anschein des Anachronismus riskiert, und klug, weil es mit dem Wissen operiert, dass das, was wir gewöhnlich Identität nennen, in erster Linie aus unseren Geschichten besteht. Und wo wären der Anschein des Anachronismus und eine Fülle von identitätsstiftenden Geschichten besser aufgehoben als in einer Bücherei?
Mark Twain hielt sich übrigens vom September 1897 bis zum Mai 1899 in Wien bzw. in Kaltenleutgeben auf, unter anderem, um seiner Tochter Clara Klavierunterricht bei Theodor Leschetizky zu ermöglichen. „Tom Sawyer“ und „Huckleberry Finn“ waren zu diesem Zeitpunkt längst in vielen Sprachen erschienen und er war ein berühmter Mann. Etwa um die Mitte seines Aufenthaltes, am 1. Juni 1898, wurde die Gürtellinie der Wiener Stadtbahn eröffnet, und auf die Vorstellung, Mark Twain könnte an diesem Tag unter dem Urban Loritz-Platz, also gewissermaßen genau unter der Hauptbücherei, durchgefahren sein, möchte man als Büchermensch nicht verzichten.“
(Auszug aus der Festrede von Paulus Hochgatterer, gehalten anläßlich des Jubiläums „10 Jahre Hauptbücherei“ im April 2013 im Wiener Rathaus)
Download: Gekürzte Version der Rede, abgedruckt im Falter 16/13:
WIR-Hochgatterer-Falter-a8