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Donnerstag, 03. Oktober 2013

Geschichten & warum man sie erzählen muss

Zuletzt geändert am 24. November 2023
WIR, das Magazin der Kinderfreunde, hat um eine Gute Nacht Geschichte gebeten - und die hat WIR natürlich auch prompt bekommen: Eine Geschichte über Geschichten.

Eine Gute-Nacht-Geschich­te über Geschichten:
War­um man erzäh­len muss
Von Ernst Schmiederer

Sie hat­ten den frem­den Mann begrüßt und saßen nun auf unbe­que­men Stüh­len in einem abge­wohn­ten Raum, der ihnen zu Beginn des Schul­jah­res als Klas­sen­zim­mer zuge­wie­sen wor­den war. Die Luft war irgend­wie dick, als ob man sie auch kau­en und schme­cken könn­te. War­me Füße. Pau­sen­bro­te. Kal­ter Ziga­ret­ten­rauch. Schweiß. Süßes Par­fum. All dies zusam­men mit der Tat­sa­che, dass sie es stun­den­lang gemein­sam hier aus­hal­ten muss­ten, nann­te man Schule. 

Woher ihre Eltern kom­men, woll­te der Mann wissen. 

Aus Mürz­zu­schlag. Aus Tsche­tsche­ni­en. Vom Land. Aus Kroa­ti­en. Aus Wien. Die Mut­ter aus Flo­rids­dorf. Aus Nige­ria. Der Vater aus einem Dorf in Ungarn. Aus Beograd.

Und sie selbst? Wo seid ihr gebo­ren, frag­te er. 

Im SMZ Ost. In Zagreb. In Nige­ria. Hier, in Wien. In Öster­reich. In Gros­ny. Ich bin in Wien gebo­ren, aber mei­ne Eltern sind aus Bag­dad, der Haupt­stadt des Irak. Ich hei­ße Melis­sa und mei­ne Wur­zeln lie­gen in Ser­bi­en und Mazedonien. 

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Was der alles wis­sen will. Was geht ihn das an? Was fragt er uns Löcher in den Bauch? Aus wel­cher Fami­lie wir kommen? 

Aus einer armen. Aus einer Groß­fa­mi­lie. Ver­rück­te Fami­lie. Lehr­erfa­mi­lie. Arbei­ter­fa­mi­lie. Stren­ge Fami­lie. Zer­strit­te­ne. Rei­che Fami­lie. Aus einer Patchworkfamilie. 

Mit wel­cher Eigen­schaft wir uns selbst am bes­ten beschrie­ben fühlen? 

Fröh­lich. Freund­lich. Nett. Guter Sän­ger. Drauf­gän­ge­risch. Nach­denk­lich. Lang­wei­lig. Unbe­re­chen­bar. Hilfsbereit.

Noch wäh­rend sie Wort für Wort mit Krei­de an die Tafel schrie­ben – lus­ti­ge Fami­lie, reli­giö­se Fami­lie; sport­lich, faul, ehr­lich – ver­teil­te der Mann Schul­hef­te mit bun­ten Ein­bän­den. Er woll­te ihre Geschich­ten haben. Mit einem Stift soll­ten sie in die Hef­te schrei­ben, soll­ten erzäh­len, wer sie sind. Woher sie kom­men. Wohin sie wol­len. Wie sie leben. Was sie essen. Wovon sie träu­men. Sie soll­ten in der Ich-Form über sich berich­ten. Sie soll­ten sich also selbst portraitieren.

Am 07.11.1996 wur­de ich im 13. Bezirk gebo­ren. Ich bin von mei­ner Mama und mei­nen Groß­el­tern auf­ge­zo­gen wor­den. Mei­ne Mama hat mir Ehr­lich­keit und die wich­ti­gen Din­ge für das Leben bei­gebracht. Mein Vater hat es nicht ein­mal geschafft, sich bei mir zu mel­den. Jetzt, wo ich 16 Jah­re alt bin, weiß er nicht ein­mal wie ich ausschaue.

Mein Name ist Jovan­ka, ich bin 17 Jah­re alt, habe einen 11jährigen Bru­der und woh­ne mit mei­nen Eltern in Wien. Ich wur­de in der Haupt­stadt Beograd in Ser­bi­en gebo­ren. Mit 5 Jah­ren kam ich dann nach Öster­reich mit mei­ner Mut­ter. Deutsch habe ich sehr schnell gelernt, auch durch die Hil­fe mei­ner Nach­ba­rin, die Ser­bin war und in Wien auf­ge­wach­sen ist. 

Ich bin Sohn eines stol­zen, aus Sala­man­ca kom­men­den Spa­ni­ers und einer aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen kom­men­den Frau aus St. Pöl­ten. Ich bin zwar hier in Öster­reich auf­ge­wach­sen, den­noch ist eins mei­ner größ­ten Hob­bies das Ver­rei­sen. Ich glau­be, das kommt von mei­nen Eltern. Sie haben mich immer Respekt vor ande­ren Kul­tu­ren & Men­schen gelehrt, so dass das Inter­es­se für eben die­se geweckt wurde.

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Sie saßen und schrie­ben, dach­ten und erzähl­ten. Sie hat­ten sich auf die Suche gemacht nach ihren Wur­zeln und ihrem Sein, nach ihrer Her­kunft, nach ihrer Identität. 

Bis ich unge­fähr zwei Jah­re alt war, habe ich mit mei­ner Mut­ter in einem Mut­ter-Kind-Heim im 11. Bezirk gewohnt. Danach bin ich zu mei­ner Oma gekom­men, die mich bei sich zuhau­se im 20. Bezirk auf­ge­nom­men hat. Mei­nen Freund Manu­el habe ich 2010 ken­nen­ge­lernt und bin noch immer über­glück­lich mit ihm. Ich weiss noch nicht, ob ich hei­ra­ten möch­te. Auf jeden Fall möch­te ich zwei oder drei Kin­der. Ich glau­be an Gott und bevor­zu­ge Respekt, gute Manie­ren und Höf­lich­keit bei jedem Men­schen, weil man das auch von mir erwar­ten kann.

Sie erzähl­ten, weil ihnen der Mann einen Floh ins Ohr gesetzt hat­te: Er woll­te aus ihren Tex­ten Bücher machen, er woll­te ihre Geschich­ten haben und sie damit zu Autorin­nen und zu Autoren machen. 

Wir Men­schen, hat­te der Mann zum Abschied einen berühm­ten Phi­lo­so­phen zitiert, wir Men­schen sind unse­re Geschich­ten. Geschich­ten muss man erzäh­len. Dar­um müs­sen wir Men­schen erzählt wer­den. Wer auf das Erzäh­len ver­zich­tet, ver­zich­tet auf sei­ne Geschich­te. Wer auf sei­ne Geschich­te ver­zich­tet, ver­zich­tet auf sich selber.

Man muss also erzählen.

Und so erzähl­ten sie.

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Bestellt & gedruckt wur­de die­ser Text von: WIR. Das Mit­glieds­ma­ga­zin der Kin­der­freun­de Öster­reich; Aus­ga­be 3/2013.

Auf den Bil­dern, die wir der Foto­gra­fin Truc Phan ver­dan­ken, ist die 2BL bei der Arbeit zu sehen – und zwar im Medi­en­zen­trum MUMELZ der BHAK 22, einer neu­en und aus­ge­spro­chen schö­nen Schu­le in der Wie­ner Donaustadt.

Ernst Schmie­de­rer arbei­tet als Jour­na­list („Die Zeit“), führt das Medi­en­la­bor Blink­licht und sam­melt in dem Pro­jekt WIR. BERICH­TE AUS DEM NEU­EN OE die Geschich­ten von jun­gen Men­schen. Wer sei­ne Geschich­te erzäh­len möch­te, schickt sie an info@wirberichten.at Als Lohn für die ein­ge­sand­ten Geschich­ten ist für jede Autorin und jeden Autor ein Exem­plar des Buches IMPORT/EXPORT: Lau­ter Aus­län­der, noch mehr Aus­län­der reserviert.

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