„Ich muss weit hinten anfangen. Mein Urgroßvater, Nicola Donnadío, Goldschmied und Klavierstimmer von Beruf, kam 1880 aus seiner italienischen Heimat nach Mexiko. Er hatte sich durchgeschlagen bis in ein armes Dorf namens Seibaplaya, im heutigen Bundesstaat Campeche gelegen. Was ihn da hingezogen hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass er am Strand die Fischer beobachtete. Dabei stach ihm die einzige Frau in der Gruppe ins Auge: ein junges Mädchen namens Carmen. Er suchte ihren Vater und erklärte dem, dass er seine Tochter heiraten wolle, erst aber noch für ein Jahr nach Italien zurück müsste. Was niemand für möglich gehalten hatte, geschah: nach einem Jahr tauchte Nicola wieder auf, mit Geschenken und Kleidern für Carmen. Sie heirateten, zogen in die Hauptstadt und hatten fünf Kinder, die jeweils nach wenigen Lebensmonaten verstarben. Eines Tages erfuhr Nicola, dass seine Mutter todkrank war. Er wollte bei ihr sein, sie womöglich selbst begraben und fuhr ein letztes Mal nach Italien – mit dem Versprechen, so bald als möglich wieder zu kommen. Doch er kam nie wieder.
Was er nicht wusste: Carmen war wieder von ihm schwanger. Diesmal gebar sie einen Sohn, Ramòn, der einer der bekanntesten Klassikgitarristen Mexikos werden sollte. Am Höhepunkt seiner Karriere lernte Ramòn einige Italiener kennen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die mit seinem Vater Nicola bekannt gewesen waren. Von ihnen erfuhr er Folgendes: sein Vater hatte sich nach dem Begräbnis auf den Weg zurück zu seiner Frau nach Mexiko gemacht, war unterwegs jedoch ausgeraubt und ermordet worden. Als Ramon die Geschichte hörte, war seine Mutter bereits tot. Sie hatte ihr Leben einsam verbracht, verbittert, überzeugt, ihr Mann hätte sie verlassen.
Für mich ist glasklar, dass ich ohne diese Reise heute nicht hier wäre. In der Familie meiner Mutter waren alle Künstler: ihr Vater Ramòn war Gitarrist, die Mutter Celistin, der Bruder Gitarrist, eine Schwester Schauspielerin, meine Mutter Sängerin und Klavierlehrerin. Sie hat mich ab meinem fünften Jahr unterrichtet und auf eine Karriere vorbereitet. So kam ich an das Nationalkonservatorium und mit Stipendien in die USA, nach Moskau und nach Wien, an das Konservatorium der Stadt und an die Staatsoper und wurde Direktor am Mexikanischen Kulturinstitut. Heute bin ich als Kulturmanager selbstständig und organisiere Events mit spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen Bezügen. Mein jüngster Auftrag: ich mache Promotion für Moctezuma Foods, die einzige Fabrik in Österreich, die Tortillas herstellt, diese typischen mexikanischen Maisfladen. Was immer noch kommen mag, eines weiß ich heute mit Sicherheit: das ganze Leben ist eine große Reise.
Aufgezeichnet von Ernst Schmiederer“
Alfonso Rafael Gutiérrez Donadio, 12.11.1959 – 18.04.2023