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Freitag, 23. September 2016

Wenn die Gäste ausbleiben

Eva Schöll
Eva Schöll, 52, unterrichtet am St. Georgs Kolleg in Istanbul und genießt die vorurteilsfreie Freundlichkeit der Menschen in dieser Stadt.


Nach mei­ner Ankunft im Som­mer ver­gan­ge­nen Jah­res, fand ich ein Zitat des Foto­gra­fen Ercan Ars­lan, das mei­ne Gefüh­le die­ser Stadt gegen­über per­fekt zum Aus­druck brach­te: „An Istan­bul lie­be ich die Viel­falt, die Mul­ti­eth­ni­zi­tät, das Bun­te. Hier fin­det jeder sei­nen Platz. Wirk­lich jeder.“ Inzwi­schen haben vie­le tra­gi­sche Ereig­nis­se ihre Spu­ren im Stadt­bild hin­ter­las­sen. Wohl bemü­hen sich die Men­schen um All­täg­lich­keit, sie wol­len wie­der ein nor­ma­les Leben füh­ren, auch wenn der Tou­ris­ten­strom abge­ris­sen ist. Aber wie soll das gehen, wenn einem die Din­ge so nahe kom­men. Der Sohn mei­ner Haus­halts­hil­fe Ayse etwa hat sei­nen Freund in die­ser Nacht ver­lo­ren: der wur­de vor sei­nen Augen erschossen.
Ich habe lan­ge als Wirt­schafts­päd­ago­gin an einer Wie­ner Han­dels­aka­de­mie unter­rich­tet und mich auf den Gegen­stand „Übungs­fir­ma“ spe­zia­li­siert. Übungs­fir­men kau­fen und ver­kau­fen Pro­duk­te oder Dienst­leis­tun­gen, sie zah­len Steu­ern und Abga­ben, sie erle­di­gen Behör­den­we­ge online. Welt­weit sind 5.000 sol­cher Übungs­fir­men mit­ein­an­der ver­netzt. So las­sen sich Fremd­spra­chen trai­nie­ren und Ein­bli­cke in die Wirt­schafts­kul­tur der Geschäfts­part­ner gewin­nen. Mich begeis­tert die­ses eigen­ver­ant­wor­li­che Ler­nen, bei dem Schü­ler auch Frei­raum haben, Feh­ler zu machen. Nach 15 Berufs­jah­ren und einer sehr inten­si­ven Zeit der Kin­der­be­treu­ung woll­te ich mich neu ori­en­tie­ren und habe mich für eine Stel­le am St. Georgs Kol­leg in Istan­bul bewor­ben. An die­ser Schu­le wer­den tür­ki­sche Jugend­li­che von öster­rei­chi­schen und tür­ki­schen Leh­rern unter­rich­tet, sie zählt zu den bes­ten Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen des Lan­des und ist für ihre Absol­ven­ten ein Sprung­brett zu öster­rei­chi­schen und euro­päi­schen Hoch­schu­len. Wer kei­ne Deutsch-Vor­kennt­nis­se mit­bringt, wird in einer Vor­be­rei­tungs­klas­se in einem Aus­maß von 20 Wochen­stun­den mit der Spra­che ver­traut gemacht – ein Modell mit dem wir auch in Öster­reich vie­len Kin­dern und Jugend­li­chen das Leben leich­ter machen könn­ten. Am 26. Jän­ner 2015 wur­de mir tele­fo­nisch mit­ge­teilt, dass mei­ne Bewer­bung erfolg­reich war und ich auf­ge­nom­men wer­de. Die­ser Anruf hat mein Leben verändert.
Der Zeit­punkt, ins Aus­land zu gehen, war ide­al. Mei­ne bei­den Söh­ne hat­ten ihre HTL-Aus­bil­dung mit Matu­ra abge­schlos­sen und waren bereit für ein eigen­stän­di­ges Leben ohne stän­di­ge Beglei­tung der Eltern. Mein Mann ist selbst­stän­dig und wen­det sein Know­how in Pro­jekt­ent­wick­lung nun eben in Istan­bul an. Zudem war uns bei­den die Aus­sicht auf Aben­teu­er, auf eine neue Spra­che und neue Freun­de ein gro­ßer Antrieb.
Wir leben in einer Duplex-Woh­nung mit Ter­as­se im euro­päi­schen Stadt­teil Beyo­g­lu. Eine klei­ne Pal­me sowie je ein Oliven‑, ein Zitro­nen- und ein Fei­gen­baum gedei­hen auf­grund der vie­len Son­nen­ta­ge wie Zau­ber­hand. Von unse­rer Dach­ter­ras­se haben wir einen zau­ber­haf­ten Blick auf die bun­te Mil­lio­nen­stadt. Scha­de nur, dass unser Gäs­te­zim­mer auf­grund der ver­än­der­ten poli­ti­schen Situa­ti­on jetzt meist leerstehen.
Die Schu­le beginnt um 08.00 Uhr. Nach acht Unter­richts­stun­den endet der Schul­tag für alle um 15.30 Uhr. Frei­zeit emp­fin­den und leben die Men­schen hier ganz anders als in Öster­reich. Schon am Weg von der Schu­le nach Hau­se tre­te ich mit allen mög­li­chen Men­schen in Inter­ak­ti­on. Es gibt noch jede Men­ge Hand­werks­be­trie­be. Man trifft auf freund­li­che Gesich­ter, die einen zum Cay ein­la­den. Oft ver­wei­le und stau­ne ich vor einem der vie­len Kel­ler­lo­ka­le, in denen Schus­ter oder Gold­schmie­de ihrer Arbeit nach­ge­hen. Mich erin­nert das alles ein biss­chen an das Bur­gen­land, in dem ich auf­ge­wach­sen bin als Nach­bar­schafts­hil­fe, Freund­schaft und Wer­te wie eine Ver­tei­lungs­ge­rech­tig­keit noch Bedeu­tung hat­ten. Ich genie­ße die offe­ne, war­me und vor­ur­teils­lo­se Freund­lich­keit der Men­schen hier.

auf­ge­zeich­net von ES; ver­öf­fent­licht in: Die Zeit, Nr. 39/2016
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