Nach meiner Ankunft im Sommer vergangenen Jahres, fand ich ein Zitat des Fotografen Ercan Arslan, das meine Gefühle dieser Stadt gegenüber perfekt zum Ausdruck brachte: „An Istanbul liebe ich die Vielfalt, die Multiethnizität, das Bunte. Hier findet jeder seinen Platz. Wirklich jeder.“ Inzwischen haben viele tragische Ereignisse ihre Spuren im Stadtbild hinterlassen. Wohl bemühen sich die Menschen um Alltäglichkeit, sie wollen wieder ein normales Leben führen, auch wenn der Touristenstrom abgerissen ist. Aber wie soll das gehen, wenn einem die Dinge so nahe kommen. Der Sohn meiner Haushaltshilfe Ayse etwa hat seinen Freund in dieser Nacht verloren: der wurde vor seinen Augen erschossen.
Ich habe lange als Wirtschaftspädagogin an einer Wiener Handelsakademie unterrichtet und mich auf den Gegenstand „Übungsfirma“ spezialisiert. Übungsfirmen kaufen und verkaufen Produkte oder Dienstleistungen, sie zahlen Steuern und Abgaben, sie erledigen Behördenwege online. Weltweit sind 5.000 solcher Übungsfirmen miteinander vernetzt. So lassen sich Fremdsprachen trainieren und Einblicke in die Wirtschaftskultur der Geschäftspartner gewinnen. Mich begeistert dieses eigenverantworliche Lernen, bei dem Schüler auch Freiraum haben, Fehler zu machen. Nach 15 Berufsjahren und einer sehr intensiven Zeit der Kinderbetreuung wollte ich mich neu orientieren und habe mich für eine Stelle am St. Georgs Kolleg in Istanbul beworben. An dieser Schule werden türkische Jugendliche von österreichischen und türkischen Lehrern unterrichtet, sie zählt zu den besten Bildungsinstitutionen des Landes und ist für ihre Absolventen ein Sprungbrett zu österreichischen und europäischen Hochschulen. Wer keine Deutsch-Vorkenntnisse mitbringt, wird in einer Vorbereitungsklasse in einem Ausmaß von 20 Wochenstunden mit der Sprache vertraut gemacht – ein Modell mit dem wir auch in Österreich vielen Kindern und Jugendlichen das Leben leichter machen könnten. Am 26. Jänner 2015 wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass meine Bewerbung erfolgreich war und ich aufgenommen werde. Dieser Anruf hat mein Leben verändert.
Der Zeitpunkt, ins Ausland zu gehen, war ideal. Meine beiden Söhne hatten ihre HTL-Ausbildung mit Matura abgeschlossen und waren bereit für ein eigenständiges Leben ohne ständige Begleitung der Eltern. Mein Mann ist selbstständig und wendet sein Knowhow in Projektentwicklung nun eben in Istanbul an. Zudem war uns beiden die Aussicht auf Abenteuer, auf eine neue Sprache und neue Freunde ein großer Antrieb.
Wir leben in einer Duplex-Wohnung mit Terasse im europäischen Stadtteil Beyoglu. Eine kleine Palme sowie je ein Oliven‑, ein Zitronen- und ein Feigenbaum gedeihen aufgrund der vielen Sonnentage wie Zauberhand. Von unserer Dachterrasse haben wir einen zauberhaften Blick auf die bunte Millionenstadt. Schade nur, dass unser Gästezimmer aufgrund der veränderten politischen Situation jetzt meist leerstehen.
Die Schule beginnt um 08.00 Uhr. Nach acht Unterrichtsstunden endet der Schultag für alle um 15.30 Uhr. Freizeit empfinden und leben die Menschen hier ganz anders als in Österreich. Schon am Weg von der Schule nach Hause trete ich mit allen möglichen Menschen in Interaktion. Es gibt noch jede Menge Handwerksbetriebe. Man trifft auf freundliche Gesichter, die einen zum Cay einladen. Oft verweile und staune ich vor einem der vielen Kellerlokale, in denen Schuster oder Goldschmiede ihrer Arbeit nachgehen. Mich erinnert das alles ein bisschen an das Burgenland, in dem ich aufgewachsen bin als Nachbarschaftshilfe, Freundschaft und Werte wie eine Verteilungsgerechtigkeit noch Bedeutung hatten. Ich genieße die offene, warme und vorurteilslose Freundlichkeit der Menschen hier.