Zwei Dinge waren immer klar: Ich wollte nie ins Personalwesen einsteigen, weil ich dann etwa sagen müsste: „Müller, Sie sind schon wieder zu spät“. Genauso sicher war ich, dass ein Medizinstudium für mich nicht in Frage käme. Und siehe da, heute habe ich genau in dieser Mischung meine Berufung gefunden: Als „Human Resources Officer“ von „Ärzte ohne Grenzen“ sorge ich von Paris aus dafür, dass rund 100 Chirurgen, 100 Anästhesisten und 20 OP-Schwestern jeweils zur rechten Zeit am richtigen Ort sind. Alles ist ständig im Fluss: Manche Ärzte müssen sechs Monate im Voraus ihren Urlaub planen, damit sie dann für vier Wochen auf Einsatz gehen können. Das kann jederzeit ein logistischer Alptraum werden. Ich muss beispielsweise wissen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in dem Land A zwar Helfer aus Marokko und Kolumbien einreisen dürfen, aber keine Bolivianer oder Algerier – die kriegen aus fadenscheinigen Gründen kein Visum. In das Land B andererseits können wir keine Brasilianer schicken, weil Brasilien ein UN-Kontingent stellt und Brasilianer deshalb dort als parteiisch gelten.
Wenn ich mich in besonders müden Momenten frage, warum ich mir das antue, denke ich an meine Studienkollegen von der Wiener Wirtschaftsuni. Einige sind Controller geworden und prüfen seit zwei Jahrzehnten irgendwelche Kennzahlen. Oder sie optimieren den Export von Coca Cola in die Slowakei. Da wird mir schnell klar, dass ich privilegiert bin: Noch nie habe ich mich zu meiner Arbeit zwingen müssen.
Fast jeden Tag erlebe ich, wie verschieden Franzosen und Österreicher sind. Würde ich mich in Wien so benehmen, wie ich mich in Frankreich benehmen muss, wäre ich schnell als Dampfplauderer abgestempelt. Wäre ich im umgekehrten Fall in Paris so zurückhaltend, wie es in Wien von mir erwartet wird, dann hielten mich die Franzosen für einen Duckmäuser, für einen Opportunisten. In Frankreich ist jedermann ständig gefordert, seine Meinung zu sagen – selbst wenn sie in einem Meeting schon von drei Leuten gleichlautend formuliert wurde. In Wien dienen Sitzungen eher der Entscheidungsfindung, in Paris dem Gedankenaustausch. Je länger man versucht, allen gerecht zu werden, umso schwieriger wird es, die Dinge richtig zu machen: Einst war ich ein überpünktlicher Mensch. In Frankreich habe ich mir die Pünktlichkeit so weit abgewöhnt, dass ich Menschen in Wien heute vor den Kopf stoße, weil ich bedenkenlos eine halbe Stunde zu spät komme.