Der Weg der narrativen Demokratie. Ein Grußwort von Pierre Rosanvallon
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir auf allen Kontinenten die Verbreitung von Populismen, begleitet von allen Illusionen, aus denen sie bestehen, und allen Perversionen, die sie nach sich ziehen. Um dieser Bedrohung zu begegnen, genügt es nicht, sie zu verur- teilen. Es gilt, Antworten zu finden auf die grundlegende Demokratieverdrossenheit der Bürger*innen, die diese Populismen und ihr Wachstum erst ermöglichen. Gestärkt werden müssen alle Institutionen und Praktiken, die dem „Auge des Volks“ Raum geben, da dieses, im Gegensatz zur „Stimme des Volks“, die nur in den seltenen Wahlzeiten lautstark vernehmbar wird, in der Lage ist, die Mächtigen dauerhaft zu überwachen.
Doch wir müssen auch den Weg der „narrativen Demokratie“ beschreiten, der dem Erleben des Einzel- nen, seinen Herausforderungen und Erwartungen, eine nachhaltige Stimme verleiht. Das bereichert wiederum die Vorstellung von einer repräsentativen Demokratie, die als eine Art öffentlicher Raum erfahren wird, in dem das, was die einfachsten Bürger*innen erleben, Gültigkeit und Bedeutung hat. Auf diese Weise kann auch der Begriff des „Volks“ einen reichhaltigeren demokratischen Sinn erhalten: An Stelle des abstrakten „Volks“ der Populisten, das nur die Negativität einer Summe von Ausschlussmechanismen darstellt, wird
eine positive Diversität zum Ausdruck gebracht. Denn wenn die Vorstellungskraft der Bürger*innen heutzutage von einer Ansammlung von Vorurteilen und Phantasmen beherrscht wird, so liegt es daran, dass die Menschen einander zu fremd sind. Ich habe in Frankreich das „Parlament der Unsichtbaren“ publiziert sowie die Internetplattform und die Buchreihe „Raconter la vie“/„Das Leben erzählen“ gestartet, um genau diesen Weg einzuschlagen. Und so freue ich mich sehr darüber, dass nun in Österreich die erste Textsammlung in einer vergleichbaren Reihe erscheint, der ich noch viele Fortsetzungen wünsche.
Pierre Rosanvallon ist Professor für neuere und neueste Geschichte am Collège de France und Directeur d‘Études an der École des Hautes Études en Sciences Sociales.
„An dieser Schnittstelle der gesellschaftlichen Anerkennung – an der Notwendigkeit, vorzukommen, und an der Notwendigkeit, als Einzelner vorzukommen, – genau hier situiert sich das vorliegende Projekt. Indem es Einzelne aus dem Schatten treten lässt. Indem es sie zu Wort kommen lässt.“
Isolde Charim, Die im Dunkeln soll man sehen, in: Vorwort zu Berichte von Bekannten
Aus dem Buch:
Josef: Das Arschlochargument
Ich stamme aus einer migrationsfernen Familie aus dem oberösterreichischen Mühlviertel. Beide Elternteile stammen seit sechs Generationen aus dem Umkreis von max. 30 km. Dennoch hat es mein Vater geschafft, den Status eines „Anderen“ zu erreichen. Als Schuldirektor, Kapellmeister und Kirchenchorleiter einer kleinen Mühlviertler Gemeinde hatte er die besten Voraussetzungen, zur örtlichen Elite zu gehören. Nur leider hatte er eine Auseinandersetzung mit der ÖVP. Er gründete die Ortsorganisation der SPÖ und hatte sehr schnell die Sympathien der Ortselite (Pfarrer, Bürgermeister, …) verspielt. Die Verleumdungen gegen ihn gingen bis zu angeblichem Missbrauch von Volksschülerinnen. Der Pfarrer brachte seine christliche Gesinnung kurz vor dem Tod meines Vaters auf den Punkt: Bei einem Besuch in unserem Haus sagte er zu meinem Vater: „Wenn es nach mir ginge, lägest du schon längst unter der Erde.“
Ich verließ sehr bald die ländliche Idylle und bin seither überzeugt, dass nur großzügige und offene Strukturen ein friedliches Zusammenleben ermöglichen. Ich verwende in der Migrationsdebatte gerne das Arschlochargument: „Die Arschlochdichte ist unter Ausländern nicht größer als unter Inländern.“ Mein Wunsch für die Zukunft: RESPEKT.
Seep, 39: Wir sollten nicht einfach wegsehen
Ich habe einen Migrationshintergrund, der sich wahrscheinlich sowieso durch meinen Namen zu erkennen gibt. Obwohl ich in Wien auf die Welt kam, verbrachte ich den Großteil meiner frühen Kindheit in Indien.
Die meisten Menschen sind der Meinung, dass die Kindheit eine Zeit ist, in der noch alles unbekümmert und sorglos zugeht. Ich bin leider nicht dieser Meinung, denn für mich war meine Volksschulzeit eine Qual! Mit sechs Jahren kam ich aus Indien nach Österreich, und zu meiner Überraschung sprach ich kein einziges Wort Deutsch!
In Indien besuchte ich bereits mit drei Jahren eine Erziehungsanstalt, in der versucht wurde, mir frühzeitig das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Meistens genoss ich den Unterricht auf Englisch und war deshalb in der Lage, in dieser Sprache zu kommunizieren. In Indien lernte ich auch in indischer Schrift zu schreiben und muss zugeben, dass es damals gar nicht so unkompliziert war, wie ich dies heute empfinde.
Aber all das änderte sich, als ich mit sechs in Wien zur Schule ging! Zwar waren meine schulischen Leistungen sehr gut durch die Vorkenntnisse, die ich mitbrachte, aber gute Noten sind nicht alles, wenn man sich in der Schule wohlfühlen will. Es stellte sich am ersten Schultag heraus, dass ich das einzige Mädchen in der Klasse war, das schwarze Haare hatte und eine braune Hautfarbe! Auch für mich war es etwas Neues, Menschen in meiner Umgebung zu sehen, die so unterschiedliche Haarfarben wie blond und brünett hatten oder Sommersprossen, aber es schien so, als ob mein Aussehen noch befremdlicher war, als ich dies bei den anderen empfand. Das war auch der Grund, warum ich die Volksschulzeit nicht sehr mochte. Wegen meines Aussehens wurde ich öfters ausgeschlossen, weil viele meine Hautfarbe als ein Virus empfanden, das durch Berührung weitergegeben werden konnte. Mir war schon bewusst, dass ich nicht so aussah wie die meisten Kinder in meiner Klasse, aber dass mir das so sehr unter die Nase gerieben wurde, war ein richtiger Schock für mich. Ich war doch auch in der Lage, mit der Andersartigkeit anderer klarzukommen! Anstatt sensibel dafür zu sein, dass ich aus einem anderen Land komme und kaum die Sprache verstehe und mir vieles dadurch schwerfällt, wurde mir noch zusätzlich die Schuld dafür in die Schuhe geschoben, anders zu sein. Als ob es eine Schande wäre, anders auszusehen.
Was mich an der ganzen Sache ein wenig ärgerte, war die Tatsache, dass meine Lehrerin dies alles in der Klasse mitbekam, aber nie den anderen SchülerInnen was sagte. Öfters stand ich alleine da und bat sie um Hilfe, aber sie war der Meinung, dass ich meine Konflikte selbst bereinigen sollte. Ich fragte mich immer, wie ich das bewerkstelligen sollte, wenn sich zehn bis fünfzehn SchülerInnen gegen mich stellten und mich mit rassistischen Kommentaren bombardierten!
Und das stellte sich für mich als ein Grund dar, in der Zukunft eine Lehrerin zu werden, die den Schülern und Schülerinnen zuhört und versucht, die Probleme im Klassenraum als die ihren zu sehen. Rassismus ist ein wichtiges Thema in unserer Gesellschaft, und ich finde, wir sollten nicht einfach wegsehen, wenn wir Ungerechtigkeit gegenüber anderen erleben!