Den ersten Kulturschock meines Lebens hatte ich im Alter von neun Jahren. Meine Familie übersiedelte damals aus Unterfranken ins Ruhrgebiet. Unser Dialekt machte mich in der Schule zum Fremden. So wurde mir das Fränkische ausgetrieben. Europa wurde mir schon in frühester Jugend zum Thema. Wir waren viel unterwegs mit unseren Eltern. In klassischen Bildungsreisen haben sie meinen beiden Schwestern und mir Südeuropa gezeigt. Spanien, Italien, Griechenland. Von diesen Anfängen sehe ich die Antike bis heute als meinen Ruhepol. Ich habe ein bisschen Griechisch gelernt, Italienisch und Spanisch. Als studentische Hilfskraft konnte ich in einem Forschungsprojekt zum bäuerlichen Widerstand in Frankreich arbeiten. All das hat mir früh die Türen nach Europa geöffnet.
Während einer Wanderung durch Marokko habe ich 2008 begonnen, Notizen zu machen. Abends zog ich mich mit Stift und Heft zurück, um meine Eindrücke zu sortieren. Mein Grundmotiv war die Frage: Wo überall finde ich Europa? Das hat Spaß gemacht. Nach einer Weile wurde daraus ein Buchprojekt, ein Blog. Und schließlich lagen die „Reisetagebücher eines Historikers“ unter dem Titel „Mein Europa“ als Buch vor.
Mit Blick auf die aktuelle Lage ist natürlich einmal zu fragen, ob die Politik nicht etwas vorausschauender agieren hätte können. Das muss man als Europäer und Historiker gerade mit Blick auf Syrien bejahen. Der antike Raum, der Mittelmeerraum: das ist keine fremde Region sondern im Gegenteil ein großer Kommunikationsraum aus dem wir unsere philosophischen und ästhetischen Kategorien beziehen. Jetzt stellen uns die Flüchtlinge in jeder Hinsicht auf die Probe: Meinen wir es ernst mit Europa? Was bedeuten uns die Menschenrechte? Was heisst Solidarität? Griechenland droht zu einem riesigen Flüchtlingslager zu werden. Es führt wohl kein Weg vorbei an der Erkenntnis und dem Eingeständnis, dass Europa die Flüchtlinge nicht aussperren kann, sondern sich auf das besinnen muss, was es bei Sonnenschein immer für sich in Anspruch genommen hat: Europa ist die Zivilisation der Menschenrechte und des Humanitarismus. Im Moment stehen wir an den Grenzen unserer Glaubwürdigkeit.
Auch wenn es schwerfällt, bleibe ich aus Prinzip optimistisch. Wir Europäer leben in reichen Gesellschaften, jeder von uns kann vieles tun, um zu helfen. Wenn jeder etwas macht, dann passt das schon. Europa ist stark genug für seine vielfältige Kultur mit ihren vielfältigen Wurzeln. Europa ist auch stark genug, dies den zu uns Kommenden vor Augen zu führen und von ihnen Respekt für unsere europäische Vielfalt zu erwarten. Was ich aber noch nicht sehe: wie lassen sich in Syrien, wie lassen sich im Irak wieder Bedingungen schaffen, die den Menschen dort ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen?