Über Geschichte und Geschichten.
Ein Vorwort von Dirk Rupnow
„Geschichte“ ist ein schwieriger, weil vieldeutiger Begriff. Er meint die vergangenen Ereignisse ebenso wie die (wissenschaftliche) Beschäftigung mit ihnen, aber auch einen literarischen Text oder eine Erzählung. Die vergangenen Ereignisse sind nur im Singular denkbar, so „wie es eigentlich gewesen“ ist. Dass aber die Rekonstruktion dieser vergangenen Ereignisse keineswegs im Singular möglich ist, sondern abhängt von Standpunkt und Perspektive des Betrachtenden oder Forschenden, dürfte sich mittlerweile als Einsicht durchgesetzt haben, wenn dies auch immer noch bei vielen ein Unbehagen oder Besorgnis hervorruft. Ein direkter und unmittelbarer Zugang zur Vergangenheit ist uns jedoch verwehrt. Der Rückblick kann ehr- licherweise nur vielstimmig sein, so wie es Literatur und Erzählungen ohnehin sind.
Mit der angeblichen Einheit von Volk, Territorium und Geschichte wurden im 19. Jahr- hundert die Nationalstaaten zu befestigen versucht. Homogenität musste allerdings auf allen drei Ebenen erst gewalthaft hergestellt werden. Pluralität wurde einfach ausgeblendet oder tatsächlich beseitigt. Die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts gehören in diese Traditionslinie. Auch Historiker legitimierten sie, „Geschichte“ wurde gerne als Argument für Ausgrenzung, Vertreibung oder auch Massenmord benutzt. Und noch immer wird eine nie da gewesene homogene Nation imaginiert oder gar zu realisieren gefordert – nicht zuletzt mit dem unseligen Schlagwort „Integration“. Dabei wird nicht nur verkannt, dass es homogene und statische, klar voneinander getrennte Kulturen nie gab und nicht gibt, sondern vor allem, dass es sie gar nicht geben kann, dass Pluralität und Austausch geradezu grundlegende Bedingungen für Kultur sind. Ohne sie gäbe es auch keine Veränderung und Entwicklung – mithin keine Geschichte.
Allein der Blick auf die alltäglich sichtbare und erfahrbare Pluralität unserer Gesellschaft macht deutlich, dass es eine Geschichte im Singular gar nicht geben kann. Allerdings hatten lange Zeit nur wenige und bestimmte Gruppen in der Gesellschaft die Möglichkeit, Geschichte(n) überhaupt zu erzählen – und mit diesen auch gehört zu werden. Nach und nach ist dies aufgebrochen worden, wurden unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft mit ihren Geschichten und Perspektiven sichtbar (z. B. Arbeiter oder Frauen). Dennoch gibt es weiter- hin Ausblendungen und Leerstellen.
Vor allem Migration, die Erfahrungen und Erinnerungen von Migrantinnen und Migranten werden immer noch an den Rand gedrängt und noch nicht als Teil „unserer“ Geschichte anerkannt. Sie stellen das Format der nationalen Geschichte und die etablierten Großnarrative auch radikal und nachhaltig in Frage. Es handelt sich um eine transnationale Geschichte par excellence: Das Überschreiten oder Unterlaufen von Grenzen wird ständig praktiziert, ohne dass diese freilich bedeutungslos würden; Globalisierung findet alltäglich vor Ort statt.
Migrantinnen und Migranten selbst müssen diese Geschichte erzählen und (mit)schreiben können. Letztlich geht es aber nicht um eine segregierte Geschichte der Migration und der Migrant(inn)en, sondern um eine inklusive Geschichte, die der alltäglichen Pluralität und dem Wandel des gegenwärtigen Österreich gerecht wird. Wie eigentlich jede wird auch diese (neue) Geschichte nie vollständig zu erzählen sein, sondern höchstens in Ausschnitten und Fragmenten. Die meisten historischen Darstellungen verschweigen dies freilich gern und ver- suchen den Eindruck einer abgerundeten und abgeschlossenen „Geschichte“ (im Singular) zu erwecken.
Mit dem Blick auf Migration und die Pluralität unserer Gesellschaft sollte endlich Abschied genommen werden von der irrigen Vorstellung einer vollständigen und geschlossenen Geschichte. Eine fragmentierte, die aus vielen Geschichten besteht, wäre wohl eine ehrlichere Geschichte. Sie wäre vielleicht auch gefeit davor, zur Legitimationsgeschichte für immer neue exkludierende Projekte zu werden, ob auf der nationalen oder – wie neuerdings häufiger – auf der internationalen Ebene.
Ein Verständnis von Geschichte bleibt allerdings strategisch bedeutsam. Aus dem Blick auf die Vergangenheit können Vorstellungen vom Möglichen und von Veränderung entwickelt werden. Ein kritisches Erinnern ist ein notwendiges Instrument, um verhärtete Perspektiven zu verschieben und zu „verlernen“. Gefordert ist eine Geschichte, die ihr Potential zur Inklusion zur Geltung bringt und diese nicht gleichzeitig wieder mit neuen Ausgrenzungen erkauft – mithin eine Geschichte, die die vielen Stimmen und unterschiedlichen Perspektiven sicht- und hörbar macht und in eine gemeinsame Geschichte einbringt: eine gemeinsame, keineswegs eine einheitliche oder vereinheitlichte.
Es wird dementsprechend darauf ankommen, Geschichten zunächst einmal zu sammeln, ihnen einen Raum zu geben. Genau das leistet „WIR. BERICHTE AUS DEM NEUEN OE“: Es macht die vielen Stimmen der Gegenwart hörbar, die sonst kaum zu vernehmen sind. Sie verändern auch unseren Blick auf Geschichte. Sie machen nicht nur deutlich, dass eine öster- reichische Geschichte heute keineswegs mehr an den Grenzen Österreichs haltmacht, sondern viele andere Orte in anderen Teilen Europas und der Welt miteinbezieht und ganz selbstverständlich miteinander verknüpft. Diese Geschichten lassen auch einen Blick auf die Zukunft zu: auf die Pläne, Erwartungen und Hoffnungen der heutigen Generation. Ihnen einen Platz zu geben – in der Gegenwart, um die Zukunft zu gestalten – wird notwendig sein. Sie werden auch eine Grundlage für eine vielstimmige Geschichte unserer Zeit sein, wenn die später einmal geschrieben wird.
Dr. Dirk Rupnow ist Historiker und leitet das Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.