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Ernst Schmiederer, Herausgeber

Wohin Wir Gehen

ISBN: 978−3−9503494−7−4
272 Seiten
Erscheinungsdatum:
22.05.2015

 14,90

Über Geschich­te und Geschichten.
Ein Vor­wort von Dirk Rupnow

„Geschich­te“ ist ein schwie­ri­ger, weil viel­deu­ti­ger Begriff. Er meint die ver­gan­ge­nen Ereig­nis­se eben­so wie die (wis­sen­schaft­li­che) Beschäf­ti­gung mit ihnen, aber auch einen lite­ra­ri­schen Text oder eine Erzäh­lung. Die ver­gan­ge­nen Ereig­nis­se sind nur im Sin­gu­lar denk­bar, so „wie es eigent­lich gewe­sen“ ist. Dass aber die Rekon­struk­ti­on die­ser ver­gan­ge­nen Ereig­nis­se kei­nes­wegs im Sin­gu­lar mög­lich ist, son­dern abhängt von Stand­punkt und Per­spek­ti­ve des Betrach­ten­den oder For­schen­den, dürf­te sich mitt­ler­wei­le als Ein­sicht durch­ge­setzt haben, wenn dies auch immer noch bei vie­len ein Unbe­ha­gen oder Besorg­nis her­vor­ruft. Ein direk­ter und unmit­tel­ba­rer Zugang zur Ver­gan­gen­heit ist uns jedoch ver­wehrt. Der Rück­blick kann ehr- licher­wei­se nur viel­stim­mig sein, so wie es Lite­ra­tur und Erzäh­lun­gen ohne­hin sind.

Mit der angeb­li­chen Ein­heit von Volk, Ter­ri­to­ri­um und Geschich­te wur­den im 19. Jahr- hun­dert die Natio­nal­staa­ten zu befes­ti­gen ver­sucht. Homo­ge­ni­tät muss­te aller­dings auf allen drei Ebe­nen erst gewalt­haft her­ge­stellt wer­den. Plu­ra­li­tät wur­de ein­fach aus­ge­blen­det oder tat­säch­lich besei­tigt. Die Gewalt­ex­zes­se des 20. Jahr­hun­derts gehö­ren in die­se Tra­di­ti­ons­li­nie. Auch His­to­ri­ker legi­ti­mier­ten sie, „Geschich­te“ wur­de ger­ne als Argu­ment für Aus­gren­zung, Ver­trei­bung oder auch Mas­sen­mord benutzt. Und noch immer wird eine nie da gewe­se­ne homo­ge­ne Nati­on ima­gi­niert oder gar zu rea­li­sie­ren gefor­dert – nicht zuletzt mit dem unse­li­gen Schlag­wort „Inte­gra­ti­on“. Dabei wird nicht nur ver­kannt, dass es homo­ge­ne und sta­ti­sche, klar von­ein­an­der getrenn­te Kul­tu­ren nie gab und nicht gibt, son­dern vor allem, dass es sie gar nicht geben kann, dass Plu­ra­li­tät und Aus­tausch gera­de­zu grund­le­gen­de Bedin­gun­gen für Kul­tur sind. Ohne sie gäbe es auch kei­ne Ver­än­de­rung und Ent­wick­lung – mit­hin kei­ne Geschichte.

Allein der Blick auf die all­täg­lich sicht­ba­re und erfahr­ba­re Plu­ra­li­tät unse­rer Gesell­schaft macht deut­lich, dass es eine Geschich­te im Sin­gu­lar gar nicht geben kann. Aller­dings hat­ten lan­ge Zeit nur weni­ge und bestimm­te Grup­pen in der Gesell­schaft die Mög­lich­keit, Geschichte(n) über­haupt zu erzäh­len – und mit die­sen auch gehört zu wer­den. Nach und nach ist dies auf­ge­bro­chen wor­den, wur­den unter­schied­li­che Grup­pen in der Gesell­schaft mit ihren Geschich­ten und Per­spek­ti­ven sicht­bar (z. B. Arbei­ter oder Frau­en). Den­noch gibt es wei­ter- hin Aus­blen­dun­gen und Leerstellen.

Vor allem Migra­ti­on, die Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen von Migran­tin­nen und Migran­ten wer­den immer noch an den Rand gedrängt und noch nicht als Teil „unse­rer“ Geschich­te aner­kannt. Sie stel­len das For­mat der natio­na­len Geschich­te und die eta­blier­ten Groß­n­ar­ra­ti­ve auch radi­kal und nach­hal­tig in Fra­ge. Es han­delt sich um eine trans­na­tio­na­le Geschich­te par excel­lence: Das Über­schrei­ten oder Unter­lau­fen von Gren­zen wird stän­dig prak­ti­ziert, ohne dass die­se frei­lich bedeu­tungs­los wür­den; Glo­ba­li­sie­rung fin­det all­täg­lich vor Ort statt.

Migran­tin­nen und Migran­ten selbst müs­sen die­se Geschich­te erzäh­len und (mit)schreiben kön­nen. Letzt­lich geht es aber nicht um eine seg­re­gier­te Geschich­te der Migra­ti­on und der Migrant(inn)en, son­dern um eine inklu­si­ve Geschich­te, die der all­täg­li­chen Plu­ra­li­tät und dem Wan­del des gegen­wär­ti­gen Öster­reich gerecht wird. Wie eigent­lich jede wird auch die­se (neue) Geschich­te nie voll­stän­dig zu erzäh­len sein, son­dern höchs­tens in Aus­schnit­ten und Frag­men­ten. Die meis­ten his­to­ri­schen Dar­stel­lun­gen ver­schwei­gen dies frei­lich gern und ver- suchen den Ein­druck einer abge­run­de­ten und abge­schlos­se­nen „Geschich­te“ (im Sin­gu­lar) zu erwecken.

Mit dem Blick auf Migra­ti­on und die Plu­ra­li­tät unse­rer Gesell­schaft soll­te end­lich Abschied genom­men wer­den von der irri­gen Vor­stel­lung einer voll­stän­di­gen und geschlos­se­nen Geschich­te. Eine frag­men­tier­te, die aus vie­len Geschich­ten besteht, wäre wohl eine ehr­li­che­re Geschich­te. Sie wäre viel­leicht auch gefeit davor, zur Legi­ti­ma­ti­ons­ge­schich­te für immer neue exklu­die­ren­de Pro­jek­te zu wer­den, ob auf der natio­na­len oder – wie neu­er­dings häu­fi­ger – auf der inter­na­tio­na­len Ebene.

Ein Ver­ständ­nis von Geschich­te bleibt aller­dings stra­te­gisch bedeut­sam. Aus dem Blick auf die Ver­gan­gen­heit kön­nen Vor­stel­lun­gen vom Mög­li­chen und von Ver­än­de­rung ent­wi­ckelt wer­den. Ein kri­ti­sches Erin­nern ist ein not­wen­di­ges Instru­ment, um ver­här­te­te Per­spek­ti­ven zu ver­schie­ben und zu „ver­ler­nen“. Gefor­dert ist eine Geschich­te, die ihr Poten­ti­al zur Inklu­si­on zur Gel­tung bringt und die­se nicht gleich­zei­tig wie­der mit neu­en Aus­gren­zun­gen erkauft – mit­hin eine Geschich­te, die die vie­len Stim­men und unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven sicht- und hör­bar macht und in eine gemein­sa­me Geschich­te ein­bringt: eine gemein­sa­me, kei­nes­wegs eine ein­heit­li­che oder vereinheitlichte.

Es wird dem­entspre­chend dar­auf ankom­men, Geschich­ten zunächst ein­mal zu sam­meln, ihnen einen Raum zu geben. Genau das leis­tet „WIR. BERICH­TE AUS DEM NEU­EN OE“: Es macht die vie­len Stim­men der Gegen­wart hör­bar, die sonst kaum zu ver­neh­men sind. Sie ver­än­dern auch unse­ren Blick auf Geschich­te. Sie machen nicht nur deut­lich, dass eine öster- rei­chi­sche Geschich­te heu­te kei­nes­wegs mehr an den Gren­zen Öster­reichs halt­macht, son­dern vie­le ande­re Orte in ande­ren Tei­len Euro­pas und der Welt mit­ein­be­zieht und ganz selbst­ver­ständ­lich mit­ein­an­der ver­knüpft. Die­se Geschich­ten las­sen auch einen Blick auf die Zukunft zu: auf die Plä­ne, Erwar­tun­gen und Hoff­nun­gen der heu­ti­gen Gene­ra­ti­on. Ihnen einen Platz zu geben – in der Gegen­wart, um die Zukunft zu gestal­ten – wird not­wen­dig sein. Sie wer­den auch eine Grund­la­ge für eine viel­stim­mi­ge Geschich­te unse­rer Zeit sein, wenn die spä­ter ein­mal geschrie­ben wird.

Dr. Dirk Rup­now ist His­to­ri­ker und lei­tet das Insti­tut für Zeit­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Innsbruck.

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