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Ernst Schmiederer, Herausgeber

Woher Wir Kommen

ISBN: 978−3−9503494−6−7
248 Seiten
Erscheinungsdatum:
22.05.2015

 14,90

Dan­ke fürs Lesen. Die­sen Satz stellt eine jun­ge Frau an den Schluss ihres Berichts. Ein­lei­tend erin­nert sie sich an ihre Ankunft in Öster­reich im Alter von acht Jah­ren: „Ich war echt glück­lich, dass ich jetzt essen und trin­ken kann, wann und was ich will, denn die Mög­lich­keit hat­te ich in Arme­ni­en nicht.“ Anschlie­ßend schil­dert sie, wie ihre Fami­lie an Alko­hol- und Dro­gen­miss­brauch zer­bricht. Im letz­ten Absatz schreibt die 17-Jäh­ri­ge: „Ich habe erst in die­sem Jahr mein Visum bekom­men, dass ich ein Blei­be­recht in Öster­reich habe. Das freut mich sehr, aber was bringt mir das, wenn ich nicht glück­lich bin?“ Und dann eben die­sen Satz: „Dan­ke fürs Lesen.“

Wäre die Welt gerecht, dann soll­ten wir Leser uns der jun­gen Frau gegen­über dank­bar zei­gen. Indem sie aus ihrem Leben erzählt, gewährt sie uns Ein­blick in ein gemein­sa­mes Heu­te, in gesell­schaft­li­che Zusam­men­hän­ge, in unse­re Gegen­wart. Doch Auf­merk­sam­keit ist ein knap­pes Gut. Und so ste­hen die Ver­hält­nis­se auf dem Kopf: Men­schen bedan­ken sich dafür, dass man ihnen zuhört!

Geschich­ten von Aus­gren­zung und Akzeptanz.
Ein Vor­wort von Ruth Wodak

Immer wie­der erle­be ich, dass man/​frau mich fragt, ob ich denn wirk­lich aus Öster­reich stam­me. War­um? Weil ich – so sagen die an mir Inter­es­sier­ten – anders aus­schaue, näm­lich „nicht-öster­rei­chisch“; aus­län­disch, ita­lie­nisch, süd­län­disch, eben anders. Sol­che Fra­gen haben mich frü­her sehr ver­un­si­chert; ich habe nach­ge­grü­belt, was denn an mei­nem Aus­se­hen so anders sei? Dunk­le Haa­re etwa; oder dass ich klein und schmal bin; oder viel­leicht mei­ne län­ge­re Nase? Unlängst begrün­de­te eine sehr freund­li­che Frau die Fra­ge nach mei­ner Her­kunft (und Iden­ti­tät) damit, dass ich ein römi­sches Pro­fil besä­ße. Ist dies nun ein Kom­pli­ment? Oder eher eine Aus­gren­zung? Wie defi­niert man denn „öster­rei­chisch“? Durch Spra­che, Aus- sehen, Klei­dung, Gewohn­hei­ten, Reli­gi­on oder Geburts­ort? Oder durch Staatsbürgerschaft?

Da ich in Lon­don gebo­ren bin, als Kind von öster­rei­chisch-jüdi­schen Flücht­lin­gen (mei­ne Eltern wur­den 1938 aus Öster­reich ver­trie­ben und haben in Eng­land glück­li­cher­wei­se einen Zufluchts­ort gefun­den), bin ich mit sol­chen Fra­gen auf­ge­wach­sen; auch mit der Bio­gra­phie mei­ner Eltern, für die die Flucht aus Öster­reich nach dem soge­nann­ten Anschluss im März 1938 und die Rück­kehr nach Öster­reich nach Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges die bestim­men­den Momen­te ihres Lebens waren.

Vor eini­ger Zeit habe ich beschlos­sen, die immer wie­der­keh­ren­de Fra­ge nach mei­ner Her­kunft aus­schließ­lich als freund­li­ches Inter­es­se zu wer­ten und nicht als Indi­ka­tor von sub­ti­ler Aus­gren­zung. Die Fra­ger sind meist recht erstaunt, wenn ich ihnen erzäh­le, dass ich eine „ech­te“ Wie­ne­rin bin, die öster­rei­chi­sche Staats­bür­ger­schaft besit­ze und dass auch mei­ne Eltern „ech­te“ Wie­ner waren. Aller­dings wur­den sie auf­grund einer ras­sis­ti­schen Poli­tik und Ideo­lo­gie vertrieben …

Sol­che Fra­gen sind natür­lich nicht zufäl­lig und auch nicht ganz unschul­dig. Es gibt kol­lek- tive Wahr­neh­mungs­mo­del­le, die – von Kind­heit an gelernt – dabei hel­fen, recht auto­ma­tisch zwi­schen Ein­hei­mi­schen und Frem­den zu unter­schei­den. Fremd­heit ist einer­seits etwas Beson­de­res, and­rer­seits scheint sie aber auch vie­len Men­schen Angst zu bereiten.

Natür­lich geht es nicht nur mir so; vie­le Migrantinnen/​Migranten und Flücht­lin­ge berich­ten von ähn­li­chen Erleb­nis­sen. Je dunk­ler die Haut­far­be, je exo­ti­scher die Klei­dung, des­to öfter wird man ange­schaut. Die­ser Blick ist für vie­le – so erzäh­len uns Migrant(inn)en – sehr unan­ge­nehm; denn er kate­go­ri­siert vorn­weg, ohne auf die Per­son und ihre Geschich­te ein- zuge­hen. Vor allem mus­li­mi­sche Frau­en mit Kopf­tuch oder gar mit Bur­qa erle­ben die­sen Blick als bedroh­lich. Oft erzäh­len uns sol­che Frau­en, dass sie absicht­lich ihr Gesicht ver­hül­len, weil sie sol­che Bli­cke als abschät­zig und aus­gren­zend emp­fin­den. Wenn man anders aus­schaut, stört man offen­bar das Stadt­bild, das sich vie­le noch homo­gen wün­schen, näm­lich weiß (manch­mal auch noch blond und blauäugig).

Akzep­tanz von Anders­ar­tig­keit, von Fremd­heit ist für vie­le schwie­rig. Offen­sicht­lich ist die Mes­sa­ge noch nicht ange­kom­men, dass wir alle in Euro­pa in diver­si­fi­zier­ten, mehr­spra­chi­gen und mul­ti­kul­tu­rel­len Gesell­schaf­ten leben, dass ganz Euro­pa zu einem Ein­wan­de­rungs­kon­ti­nent gewor­den ist. Die Sehn­sucht nach einer homo­ge­nen Gesell­schaft ist obso­let geworden.

Selbst wenn uns fremd aus­schau­en­de Men­schen begeg­nen, die wun­der­bar Deutsch spre­chen, auch ech­ten Dia­lekt, wird nach dem „Migra­ti­ons­hin­ter­grund“ gefragt. „Migra­ti­ons- hin­ter­grund“ ist zwar eine sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Kate­go­rie, um demo­gra­phi­sche Daten rich­tig erfas­sen zu kön­nen – damit wer­den also all jene cha­rak­te­ri­siert, wo zumin­dest ein Eltern­teil ein­ge­wan­dert ist. Umgangs­sprach­lich wird die­ser Begriff jedoch anders ver­wen­det – näm­lich in Zuschrei­bung von Fremd­heit und Unzu­ge­hö­rig­keit. Oft fra­ge ich mich, wenn ich die­sen Begriff ver­neh­me, wie weit his­to­risch rück­ge­forscht wird – wann ist man/​frau zuge­hö­rig, wann besitzt man/​frau noch einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund? Haben wir nicht alle einen sol­chen? Zuge­spitzt könn­te man ver­mu­ten, dass die­se Kate­go­rie nicht weit von der Nach­fra­ge nach einem „Ahnen­pass“ gela­gert ist!

Vie­le Jugend­li­che, deren Geschich­ten wir genau doku­men­tiert in die­sem Buch vor­fin­den, erzäh­len von ähn­li­chen Erleb­nis­sen: von man­cher­lei Aus­gren­zung und auch von oft­ma­li­ger Akzep­tanz. Die­se Geschich­ten sind wich­tig – sie erlau­ben Ein­blick in das Erle­ben die­ser Men­schen. Und erin­nern mich auch immer wie­der an mei­ne eige­nen Erfah­run­gen. Es bleibt zu hof­fen, dass die­se Doku­men­te vie­le errei­chen – denn Angst ist meist dort vor­han­den, wo es kaum zu Begeg­nun­gen mit ande­ren Men­schen, Frem­den, gekom­men ist. Angst löst sich nur dann auf, wenn eine Gesell­schaft auch mit Offen­heit und Neu­gier reagiert; wenn man ver­steht, dass Frem­des berei­chernd sein kann, den Hori­zont öff­net und uns alle aus einer ver­eng­ten natio­na­len Sicht in eine euro­päi­sche Inte­gra­ti­ons­kul­tur führt, in der die Men­schen­rech­te die Norm bil­den. Dazu leis­tet das Pro­jekt „WIR. BERICH­TE AUS DEM NEU­EN OE“ einen ganz wich­ti­gen Beitrag.

Dr. Ruth Wod­ak ist Lin­gu­is­tin und hält an der Uni­ver­si­tät Lan­cas­ter den Lehr­stuhl für Diskursstudien.

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