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Ernst Schmiederer, Herausgeber

WIR IN WIEN

ISBN: 978−3−9503494−2−9
224 Seiten
Erscheinungsdatum:
10.12.2013

 14,90

Nie zuvor war Jugend so beforscht wie heut­zu­ta­ge. Nie waren Jugend­li­che so exzes­siv von Waren- und Kon­sum­wirt­schaft umwor­ben. Und nie­mals war die Jugend in den Sonn­tags­re­den der Poli­tik prä­sen­ter als in die­sen euro­päi­schen Kri­sen­zei­ten. Jugend & Jugend­li­che – von Jugend­kul­tur­for­schern und Jugend­in­sti­tuts­di­rek­to­ren ergrün­det, von Pro­dukt­ma­na­ge­rin­nen und Online-Wer­be­lei­te­rin­nen aufs Korn genom­men, von Bil­dungs­pla­nern und Erzie­hungs- wis­sen­schaft­le­rin­nen kate­go­ri­siert, zuge­teilt, ein­ge­kas­telt. Kurz­um: Jugend & Jugend­li­che wer­den von Erwach­se­nen zum Objekt gemacht.

Hier wird die­ser Spieß umge­dreht. Hier berich­ten Jugend­li­che radi­kal sub­jek­tiv aus ihrer Welt.

„Das Leben von mei­nem Vater war in Gefahr, weil er für den Prä­si­den­ten gear­bei­tet hat“, schreibt einer. „Des­halb muss­ten wir von Afgha­ni­stan weg.“

Ein ande­rer Bericht hält einen Schlüs­sel­mo­ment im Wer­den eines jun­gen Men­schen fest: „Mir wur­de klar, dass ich nicht mehr in der Tür­kei war, aber die deut­sche Spra­che noch nicht spre­chen konnte.“

Ein Drit­ter fokus­siert auf die Gegen­wart: „Jetzt sind mei­ne Eltern geschie­den, und ich lebe mit mei­nen Geschwis­tern bei mei­ner Mut­ter. (…) Jetzt will ich die HAK abschlie­ßen und einen guten Job bekommen.“

Sehr per­sön­lich erzäh­len jun­ge Men­schen, wie sie gewor­den sind, was sie sind. Was sie jetzt (!) sind. Hei­mat, schreibt der 17-jäh­ri­ge Ram­zan, sei für ihn jener „Ort, wo mei­ne Fami­lie ist“. Und wei­ter: „Ich könn­te über­all leben, in jedem Land, auf jedem Kon­ti­nent, bei jedem Kli­ma. Ich brau­che nur eine ein­zi­ge Bedin­gung – dass mei­ne Fami­lie mit mir sei. Man schätzt etwas erst dann, wenn man es verliert.“

So eröff­nen die­se Berich­te, von Wien und dem Heu­te aus­ge­hend, nicht nur Bli­cke in eine wei­te Welt, son­dern immer auch in das Ich ihrer Ver­fas­ser. Die­ses Erzäh­len hat den Autorin­nen und Autoren Mühen und oft auch gro­ßen Mut abver­langt, weil es eben auch eine Ein­la­dung zur Erkun­dung der eige­nen Per­sön­lich­keit war. Sie haben sich dar­auf ein­ge­las­sen und ihr Sein in die Form einer Geschich­te gebracht. Sie haben also etwas gestal­tet und zum Aus­druck gebracht, was man gemein­hin Iden­ti­tät nennt. Uns Lesen­den gewäh­ren sie damit Ein­bli­cke in sub­jek­ti­ves Wer­den. Der Umstand, dass dabei so häu­fig Begrif­fe wie Hei­mat oder Spra­che ins Zen­trum rücken, bil­det jene Rea­li­tä­ten ab, die weit­hin mit Begrif­fen wie mul­ti- oder inter- kul­tu­rell beschrie­ben werden.

Das Stück­werk für eine offe­ne­re Gesellschaft

Ein Vor­wort von Doron Rabinovici

In mei­ner Volks­schul­klas­se war ich das ein­zi­ge Kind, das nicht in Öster­reich gebo­ren wor­den war und auch nicht hier blei­ben soll­te. Mei­ne Eltern erklär­ten uns, mei­nem Bru­der und mir, nächs­tes Jahr, allen­falls im über­nächs­ten Jahr wür­den wir wie­der nach Tel Aviv zurück­keh­ren. Ich war ein Fremd­ling unter lau­ter Ein­hei­mi­schen. Mei­ne öster­rei­chi­schen Alters­ge­nos­sen kamen mir anfangs sehr brav und ziem­lich still vor. Ich weiß noch: Sie erin­ner­ten mich damals ein wenig an die Sem­mel­knö­del, die einem hier­zu­lan­de so ger­ne zube­rei­tet werden.

Wir waren nur Buben. Koedu­ka­ti­on war in der Alpen­re­pu­blik noch nicht ein­ge­führt. In der Pau­se ver­schwand ich ger­ne in das nächs­te Zim­mer, in dem die Mäd­chen unter­rich­tet wur­den. Im Unter­schied zu mei­nen Klas­sen­ka­me­ra­den fand ich die Schü­le­rin­nen, die damals noch alle Rock oder Kleid tru­gen, aber kei­nes­falls Hose, nicht alle­samt blöd. Beson­ders ger­ne such­te ich dort Hei­di auf, unse­re Nachbarstochter.

Ich rief Erstau­nen her­vor, da ich auf Hebrä­isch, in mei­ner Mut­ter­spra­che, reden konn­te, aber wirk­lich bewun­dert wur­de ich, weil ich, anders als alle übri­gen, bereits mit einem Flug- zeug gereist war. Das hat­te noch nie­mand von den Kin­dern erlebt. Ich war ein klei­ner Pio­nier der Lüfte.

Spä­ter, im Wie­ner Aka­de­mi­schen Gym­na­si­um, gab es auch nicht vie­le, die im Aus­land zur Welt gekom­men waren. Der Vater einer Schü­le­rin stamm­te aus Jugo­sla­wi­en, die Eltern einer ande­ren aus Grie­chen­land, eine wei­te­re hat­te, wenn ich mich nicht irre, schot­ti­sche Wur­zeln, aber sie waren alle von Anfang an Wie­ner gewe­sen. Einer kam aus Deutsch­land, und spä­ter ver­brach­te gar ein Ame­ri­ka­ner eini­ge Jah­re bei uns. Obgleich Eng­lisch sei­ne Mut­ter­spra­che war, bestand unse­re Gym­na­si­al­leh­re­rin, die sehr stolz dar­auf war, uns nur das bri­ti­sche Idi­om bei­zu­brin­gen, dar­auf, ihn schlecht zu beno­ten. Eines Tages wur­de ein Schü­ler bei uns auf- genom­men, der in der Schweiz, wie land­läu­fig gesagt wird, das Licht der Welt erblickt hat­te, doch die­se For­mu­lie­rung stimm­te bei ihm eben nicht so ganz, denn er war seh­be­hin­dert. Er galt als Expe­ri­ment. Er saß bis zur Matu­ra mit einer gro­ßen Punkt­schrift­ma­schi­ne unter uns. Er müh­te sich sehr, in allem mit uns Schritt hal­ten zu kön­nen, und tat­säch­lich ver­gaß ich zuwei­len, was ihn von uns ande­ren unter­schied, wes­halb ich ihn ein­mal frag­te, ob auch er zur Stel­lungs­kom­mis­si­on des Mili­tärs müs­se. Er ant­wor­te­te schel­misch: „Ich wer­de nicht ein- gezo­gen, weil ich beim Schie­ßen immer danebentreffe.“

Vor eini­ger Zeit wur­de ich wie­der in mei­ne ehe­ma­li­ge Mit­tel­schu­le ein­ge­la­den. Ich soll­te einer Klas­se der Ober­stu­fe aus mei­nem Roman vor­le­sen. Um mich waren nun vie­le, deren Fami­li­en offen­kun­dig aus ande­ren Län­dern und fer­nen Erd­tei­len her­ge­zo­gen waren.

Wie sehr hat­te sich das Aka­de­mi­sche Gym­na­si­um ver­än­dert! Damals waren wir eine weit- gehend homo­ge­ne Klas­se in einem ziem­lich ein­för­mi­gen Wien. Wir leb­ten im Mit­tel­eu­ro­pa der Nach­kriegs­zeit. Die Repu­blik war noch von den Ver­fol­gun­gen aller Anders­ar­ti­gen, von den Ver­trei­bun­gen und den Mas­sen­mor­den des Nazis­mus geprägt. Die Gesell­schaft war durch den Kal­ten Krieg ein­ge­fro­ren. Das Leben am Ran­de des Eiser­nen Vor­hangs war von Still­stand geprägt und nicht von neu­er Zuwan­de­rung. Das Land lag wie eine Sack­gas­se inmit­ten der Blö­cke. Öster­reich war in den toten Win­kel zwi­schen Ost und West gera­ten. Der Alpen­staat galt als Insel der Seli­gen und war ein Nie­mands­land der Geschich­te. Die Ver­gan­gen­heit wur­de ver­leug­net oder umge­lo­gen. Nichts soll­te an die Unta­ten hei­mi­scher Täter erin­nern. Es herrsch­te das Dik­tat des Ver­schwei­gens. Wen wun­dert es, daß in die­ser Atmo­sphä­re des Ver­tu­schens und der Aus­lö­schung nicht nur die Wahr­heit über die frü­he­ren Ver­bre­chen unter­drückt wur­de, son­dern auch den Kin­dern und den Jugend­li­chen nicht zuge­hört wur­de, wenn sie erzähl­ten, was ihnen in den öffent­li­chen Hei­men ange­tan wur­de und wie dort der Miß­brauch an Min­der­jäh­ri­gen zum Regel­fall mutierte.

In „Wir. Berich­te aus dem neu­en OE“ haben jun­ge Men­schen die­ses Lan­des das Sagen. Sie sind es, die uns hier von unse­rer Gegen­wart und von unse­rer Zukunft berich­ten, indem sie von ihrem Her­kom­men, von ihren Erleb­nis­sen, von ihren Nöten und von ihren Sehn­süch­ten reden. Die­se Geschich­ten stam­men aus einem ande­ren Land als jenem, in das ich als Klein­kind einst gebracht wurde.

Das Pro­jekt „Wir. Berich­te aus dem neu­en OE“ wur­de von Ernst Schmie­de­rer und sei­nem blink­licht media lab erdacht und ver­wirk­licht. Bereits über 1.800 Jugend­li­che in Wien, in Kärn­ten, in Ober­ös­ter­reich und in Vor­arl­berg, aus über 120 Klas­sen in bald vier­zig Schu­len, ob vom Poly­tech­ni­kum, dem Sacré Cœur, dem slo­we­ni­schen Bun­des­gym­na­si­um oder der Busi­ness Aca­de­my kom­men zu Wort. Sie wur­den auf­ge­for­dert, über sich zu schrei­ben, und so brach­ten sie in weni­gen Sei­ten zu Papier, was sie ausmacht.

Die­se Jugend­li­chen tei­len mit uns ihre ein­zig­ar­ti­gen Erfah­run­gen, und sie erlau­ben uns so, zu erken­nen, wo wir daheim sind. Sie las­sen uns ver­ste­hen, wer wir sind und wer wir sein wer­den. Ja, mehr noch: Sie reden auch von dem jüngst Gesche­he­nen, das nicht sel­ten unter- drückt, aus­ge­blen­det oder über­se­hen wird. Sie spre­chen das Uner­hör­te aus. Sie brin­gen es zur Spra­che. Wovon sie alle schrei­ben, liegt zwi­schen den ver­schie­de­nen Klang­wel­ten, ob sie nun auf einem fer­nen Kon­ti­nent noch gebo­ren wur­den oder aus Fami­li­en stam­men, die seit Gene­ra­tio­nen bereits hier leben.

Eine berich­tet, sie sei mit­samt der Mut­ter vom Vater hin­aus­ge­wor­fen wor­den, fin­de jedoch in ihren Büchern ihr neu­es Zuhau­se. Ein ande­rer, in Wien gebo­ren, ist dem Land sei­ner Fami­lie noch sehr ver­bun­den, fühlt sich jedoch nur in sei­ner Musik wirk­lich daheim. Einer erzählt, wie er schon seit frü­hes­ter Kind­heit mit Krebs fer­tig wer­den muß­te, ein ande­rer berich­tet von Dro­gen und Sucht. Man­che schil­dern, wie schwer es ihren Eltern fiel, nach Öster­reich zu kom­men und sich in der neu­en Umge­bung ein­zu­le­ben. Man­che bezeu­gen, was es bedeu­tet, sein Geburts­land gegen den eige­nen Wil­len ver­las­sen zu müs­sen. Einer läßt uns gar wis­sen, sein Opa sei im Gefäng­nis, und er ver­schweigt nicht das Ver­bre­chen, nicht die Schwie­rig­kei­ten, mit denen die Sei­nen seit­her zu kämp­fen hat­ten, doch führt er eben­so aus, wie es sein Vater den­noch schaff­te, sich hier eine Exis­tenz auf­zu­bau­en. Man­che bekla­gen die Res­sen­ti­ments, auf die sie sto­ßen, aber sie erklä­ren gleich­zei­tig, sich davon nicht unter­krie­gen zu lassen.

Es sind Geschich­ten, die mich fan­gen und nicht los­las­sen, weil sie so reich­hal­tig und viel- sei­tig sind. Kein Text gleicht dem ande­ren, doch wer sie hin­ter­ein­an­der liest, merkt, wie die ver­schie­de­nen Fäden inein­an­der­lau­fen und ein neu­es, bun­tes Gewe­be erge­ben, ein Mosa­ik einer offe­ne­ren Gesell­schaft, ein Stück­werk aus Geis­tes­ge­gen­wart und voll Zukunft. Es ist ein Fle­ckerl­tep­pich für ein bes­se­res Österreich.

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