Nie zuvor war Jugend so beforscht wie heutzutage. Nie waren Jugendliche so exzessiv von Waren- und Konsumwirtschaft umworben. Und niemals war die Jugend in den Sonntagsreden der Politik präsenter als in diesen europäischen Krisenzeiten. Jugend & Jugendliche – von Jugendkulturforschern und Jugendinstitutsdirektoren ergründet, von Produktmanagerinnen und Online-Werbeleiterinnen aufs Korn genommen, von Bildungsplanern und Erziehungs- wissenschaftlerinnen kategorisiert, zugeteilt, eingekastelt. Kurzum: Jugend & Jugendliche werden von Erwachsenen zum Objekt gemacht.
Hier wird dieser Spieß umgedreht. Hier berichten Jugendliche radikal subjektiv aus ihrer Welt.
„Das Leben von meinem Vater war in Gefahr, weil er für den Präsidenten gearbeitet hat“, schreibt einer. „Deshalb mussten wir von Afghanistan weg.“
Ein anderer Bericht hält einen Schlüsselmoment im Werden eines jungen Menschen fest: „Mir wurde klar, dass ich nicht mehr in der Türkei war, aber die deutsche Sprache noch nicht sprechen konnte.“
Ein Dritter fokussiert auf die Gegenwart: „Jetzt sind meine Eltern geschieden, und ich lebe mit meinen Geschwistern bei meiner Mutter. (…) Jetzt will ich die HAK abschließen und einen guten Job bekommen.“
Sehr persönlich erzählen junge Menschen, wie sie geworden sind, was sie sind. Was sie jetzt (!) sind. Heimat, schreibt der 17-jährige Ramzan, sei für ihn jener „Ort, wo meine Familie ist“. Und weiter: „Ich könnte überall leben, in jedem Land, auf jedem Kontinent, bei jedem Klima. Ich brauche nur eine einzige Bedingung – dass meine Familie mit mir sei. Man schätzt etwas erst dann, wenn man es verliert.“
So eröffnen diese Berichte, von Wien und dem Heute ausgehend, nicht nur Blicke in eine weite Welt, sondern immer auch in das Ich ihrer Verfasser. Dieses Erzählen hat den Autorinnen und Autoren Mühen und oft auch großen Mut abverlangt, weil es eben auch eine Einladung zur Erkundung der eigenen Persönlichkeit war. Sie haben sich darauf eingelassen und ihr Sein in die Form einer Geschichte gebracht. Sie haben also etwas gestaltet und zum Ausdruck gebracht, was man gemeinhin Identität nennt. Uns Lesenden gewähren sie damit Einblicke in subjektives Werden. Der Umstand, dass dabei so häufig Begriffe wie Heimat oder Sprache ins Zentrum rücken, bildet jene Realitäten ab, die weithin mit Begriffen wie multi- oder inter- kulturell beschrieben werden.
Das Stückwerk für eine offenere Gesellschaft
Ein Vorwort von Doron Rabinovici
In meiner Volksschulklasse war ich das einzige Kind, das nicht in Österreich geboren worden war und auch nicht hier bleiben sollte. Meine Eltern erklärten uns, meinem Bruder und mir, nächstes Jahr, allenfalls im übernächsten Jahr würden wir wieder nach Tel Aviv zurückkehren. Ich war ein Fremdling unter lauter Einheimischen. Meine österreichischen Altersgenossen kamen mir anfangs sehr brav und ziemlich still vor. Ich weiß noch: Sie erinnerten mich damals ein wenig an die Semmelknödel, die einem hierzulande so gerne zubereitet werden.
Wir waren nur Buben. Koedukation war in der Alpenrepublik noch nicht eingeführt. In der Pause verschwand ich gerne in das nächste Zimmer, in dem die Mädchen unterrichtet wurden. Im Unterschied zu meinen Klassenkameraden fand ich die Schülerinnen, die damals noch alle Rock oder Kleid trugen, aber keinesfalls Hose, nicht allesamt blöd. Besonders gerne suchte ich dort Heidi auf, unsere Nachbarstochter.
Ich rief Erstaunen hervor, da ich auf Hebräisch, in meiner Muttersprache, reden konnte, aber wirklich bewundert wurde ich, weil ich, anders als alle übrigen, bereits mit einem Flug- zeug gereist war. Das hatte noch niemand von den Kindern erlebt. Ich war ein kleiner Pionier der Lüfte.
Später, im Wiener Akademischen Gymnasium, gab es auch nicht viele, die im Ausland zur Welt gekommen waren. Der Vater einer Schülerin stammte aus Jugoslawien, die Eltern einer anderen aus Griechenland, eine weitere hatte, wenn ich mich nicht irre, schottische Wurzeln, aber sie waren alle von Anfang an Wiener gewesen. Einer kam aus Deutschland, und später verbrachte gar ein Amerikaner einige Jahre bei uns. Obgleich Englisch seine Muttersprache war, bestand unsere Gymnasiallehrerin, die sehr stolz darauf war, uns nur das britische Idiom beizubringen, darauf, ihn schlecht zu benoten. Eines Tages wurde ein Schüler bei uns auf- genommen, der in der Schweiz, wie landläufig gesagt wird, das Licht der Welt erblickt hatte, doch diese Formulierung stimmte bei ihm eben nicht so ganz, denn er war sehbehindert. Er galt als Experiment. Er saß bis zur Matura mit einer großen Punktschriftmaschine unter uns. Er mühte sich sehr, in allem mit uns Schritt halten zu können, und tatsächlich vergaß ich zuweilen, was ihn von uns anderen unterschied, weshalb ich ihn einmal fragte, ob auch er zur Stellungskommission des Militärs müsse. Er antwortete schelmisch: „Ich werde nicht ein- gezogen, weil ich beim Schießen immer danebentreffe.“
Vor einiger Zeit wurde ich wieder in meine ehemalige Mittelschule eingeladen. Ich sollte einer Klasse der Oberstufe aus meinem Roman vorlesen. Um mich waren nun viele, deren Familien offenkundig aus anderen Ländern und fernen Erdteilen hergezogen waren.
Wie sehr hatte sich das Akademische Gymnasium verändert! Damals waren wir eine weit- gehend homogene Klasse in einem ziemlich einförmigen Wien. Wir lebten im Mitteleuropa der Nachkriegszeit. Die Republik war noch von den Verfolgungen aller Andersartigen, von den Vertreibungen und den Massenmorden des Nazismus geprägt. Die Gesellschaft war durch den Kalten Krieg eingefroren. Das Leben am Rande des Eisernen Vorhangs war von Stillstand geprägt und nicht von neuer Zuwanderung. Das Land lag wie eine Sackgasse inmitten der Blöcke. Österreich war in den toten Winkel zwischen Ost und West geraten. Der Alpenstaat galt als Insel der Seligen und war ein Niemandsland der Geschichte. Die Vergangenheit wurde verleugnet oder umgelogen. Nichts sollte an die Untaten heimischer Täter erinnern. Es herrschte das Diktat des Verschweigens. Wen wundert es, daß in dieser Atmosphäre des Vertuschens und der Auslöschung nicht nur die Wahrheit über die früheren Verbrechen unterdrückt wurde, sondern auch den Kindern und den Jugendlichen nicht zugehört wurde, wenn sie erzählten, was ihnen in den öffentlichen Heimen angetan wurde und wie dort der Mißbrauch an Minderjährigen zum Regelfall mutierte.
In „Wir. Berichte aus dem neuen OE“ haben junge Menschen dieses Landes das Sagen. Sie sind es, die uns hier von unserer Gegenwart und von unserer Zukunft berichten, indem sie von ihrem Herkommen, von ihren Erlebnissen, von ihren Nöten und von ihren Sehnsüchten reden. Diese Geschichten stammen aus einem anderen Land als jenem, in das ich als Kleinkind einst gebracht wurde.
Das Projekt „Wir. Berichte aus dem neuen OE“ wurde von Ernst Schmiederer und seinem blinklicht media lab erdacht und verwirklicht. Bereits über 1.800 Jugendliche in Wien, in Kärnten, in Oberösterreich und in Vorarlberg, aus über 120 Klassen in bald vierzig Schulen, ob vom Polytechnikum, dem Sacré Cœur, dem slowenischen Bundesgymnasium oder der Business Academy kommen zu Wort. Sie wurden aufgefordert, über sich zu schreiben, und so brachten sie in wenigen Seiten zu Papier, was sie ausmacht.
Diese Jugendlichen teilen mit uns ihre einzigartigen Erfahrungen, und sie erlauben uns so, zu erkennen, wo wir daheim sind. Sie lassen uns verstehen, wer wir sind und wer wir sein werden. Ja, mehr noch: Sie reden auch von dem jüngst Geschehenen, das nicht selten unter- drückt, ausgeblendet oder übersehen wird. Sie sprechen das Unerhörte aus. Sie bringen es zur Sprache. Wovon sie alle schreiben, liegt zwischen den verschiedenen Klangwelten, ob sie nun auf einem fernen Kontinent noch geboren wurden oder aus Familien stammen, die seit Generationen bereits hier leben.
Eine berichtet, sie sei mitsamt der Mutter vom Vater hinausgeworfen worden, finde jedoch in ihren Büchern ihr neues Zuhause. Ein anderer, in Wien geboren, ist dem Land seiner Familie noch sehr verbunden, fühlt sich jedoch nur in seiner Musik wirklich daheim. Einer erzählt, wie er schon seit frühester Kindheit mit Krebs fertig werden mußte, ein anderer berichtet von Drogen und Sucht. Manche schildern, wie schwer es ihren Eltern fiel, nach Österreich zu kommen und sich in der neuen Umgebung einzuleben. Manche bezeugen, was es bedeutet, sein Geburtsland gegen den eigenen Willen verlassen zu müssen. Einer läßt uns gar wissen, sein Opa sei im Gefängnis, und er verschweigt nicht das Verbrechen, nicht die Schwierigkeiten, mit denen die Seinen seither zu kämpfen hatten, doch führt er ebenso aus, wie es sein Vater dennoch schaffte, sich hier eine Existenz aufzubauen. Manche beklagen die Ressentiments, auf die sie stoßen, aber sie erklären gleichzeitig, sich davon nicht unterkriegen zu lassen.
Es sind Geschichten, die mich fangen und nicht loslassen, weil sie so reichhaltig und viel- seitig sind. Kein Text gleicht dem anderen, doch wer sie hintereinander liest, merkt, wie die verschiedenen Fäden ineinanderlaufen und ein neues, buntes Gewebe ergeben, ein Mosaik einer offeneren Gesellschaft, ein Stückwerk aus Geistesgegenwart und voll Zukunft. Es ist ein Fleckerlteppich für ein besseres Österreich.