Den Gedanken, dass die Reise unseres Lebens auf zwei interagierenden Faktoren basiert, hat uns der große Soziologe Zygmunt Bauman hinterlassen: dem Schicksal einerseits und den von ihm ermöglichten realistischen Optionen andererseits. Dieses „Set“, sagte er, lässt sich nicht überspringen. „Aber verschiedene Leute werden eine unterschiedliche Wahl treffen, und das ist eine Frage des Charakters. Deshalb hat man zur selben Zeit Anlass zu Pessimismus und Optimismus. Pessimismus, weil es unüberwindbare Grenzen der Möglichkeiten gibt, die einem offenstehen. (…) Optimismus, weil man, im Unterschied zum Schicksal, an seinem Charakter arbeiten kann.“*
Wie präzise Bauman damit den Lauf des Lebens seziert, zeigen auch die Texte der 376 jungen Menschen, die in diesen beiden Bänden nun gedruckt vorliegen. Schicksal allüberall. Aber dann eben Möglichkeiten zuhauf, Chancen. Und Hürden. Ungerechtigkeiten. Ungleichheiten. Die ganze Bandbreite.
„Das erste Mal auf Skiern stand ich mit 2 Jahren“, berichtet der Gymnasiast Marcus: „Seitdem nutze ich jeden freien Tag im Winter, um diesen Sport auszuüben. Ich liebe einfach alles daran.“ Während in derselben Salzburger Schule – vielleicht gar am Tisch neben Marcus, beim Schreiben womöglich Ellbogen an Ellbogen – Mumtahena sich daran erinnert, „ein paar Monate in einem christlichen Kindergarten, Kirche und Zeug, all inclusive“ verbracht zu haben: „An sich klingt das nicht sonderlich aufregend, aber wir sind (sehr) gläubige Muslime.“
Jede dieser Geschichten gewährt also Einblick in ein Leben. In Summe erzählen diese Geschichten aber auch von den Möglichkeiten des Zusammenlebens, vom aktuellen Stand des gesellschaftlichen Zusammenhalts, auch von Schwachstellen, die schnell Bruchstellen werden können. „Warum kannst du so gut Deutsch“, wird die 15-jährige Sarah oft gefragt, „warum schaust du nicht aus wie ein Ausländer?“ Sarah, die mit diesen zwei Sätzen nicht nur aus ihrem Leben, sondern eben auch über das Leben in Salzburg erzählt, fragt sich in solchen Momenten eher ratlos: „Wie schaut denn so ein ‚Ausländer‘ aus?“
Insofern diese Textsammlung unsere Gegenwart dokumentiert, hält sie natürlich auch auf solche Fragen angemessen vielfältige Antworten bereit. In diesem Sinn meine Empfehlung: Lesen! Denn auch Lesen ist Arbeit am Charakter.
Die Schreib-Workshops des Blinklicht Media Lab werden seit 2011 in Schulen (mittlerweile in fast allen Typen) sowie in zahlreichen anderen Bildungsinstitutionen (anfangs vor allem in Produktionsschulen, seit einiger Zeit auch etwa in Volkshochschulen und im Jugendcollege der Stadt Wien) angeboten. Jahr für Jahr entstehen dabei im Schnitt rund 500 BERICHTE AUS DEM NEUEN OE. In dieser Reihe sind (Stand 2018) elf Bücher entstanden, allesamt erschienen in der edition IMPORT/EXPORT.
Aus: Wovon zu berichten ist: Leben. Schicksal. Möglichkeiten. Eine Einführung von Ernst Schmiederer