Weil heute nicht mehr selbstverständlich ist, was einst selbstverständlich schien, ist es angebracht, die vorliegenden Bände mit diesem banalen Satz einzuleiten: Flüchtlinge sind auch nur Menschen! Menschen haben Talente, können und wissen Dinge. Auch wenn es Menschen sind, die verfolgt werden. Menschen, die überlebt haben oder immer weiter mit dem Überleben beschäftigt sind. Menschen, die irgendwoher kommen, aber oftmals nirgendwo ankommen. Menschen, die in Zwischenwelten leben. Menschen, die in wesentlichen Momenten unfassbar stark waren und irgendwann am Ende ihrer Kräfte sind. Menschen, die träumen. Menschen, die Angst haben. Menschen, die Kinder haben. Menschen, die mit Ängsten und Träumen und Kindern in Lagern leben. Menschen, die unfreiwillig mobil sind und dies viel zu oft bleiben müssen. Menschen, die wesentliche Lebensentscheidungen nicht frei treffen können. Menschen, die sich nicht aussuchen können, wo sie leben.
Mazen, 40: Als die Rakete einschlug
Ich lebte seit meiner Geburt 1975 als Palästinenser in Syrien. Ich möchte von meinen Schwie- rigkeiten erzählen, die ich auf meiner Reise nach Österreich hatte. Zunächst lebte ich im Al-Neirab-Camp, fünf Kilometer östlich von Aleppo. Doch mit jedem Tag wurde das Leben dort schwieriger, da wir durch die Kämpfe und Zusammenstöße von der Stadt abgeschnitten waren. Also beschlossen wir, nach Aleppo zu ziehen, wo ich vielleicht bessere Chancen hätte, Geld zu verdienen und die Familie zu versorgen. Ich habe drei Kinder.
Nach einer schrecklichen Reise voller Gefahren gelangten wir nach Aleppo. Wir wohnten zwei Wochen bei meiner Schwester, aber wir mussten uns um eine andere Bleibe umsehen, da das Haus zu klein war und die Situation unerträglich wurde, auch wenn meine Schwester äußerst gastfreundlich war. Nachdem wir einige Tage gesucht hatten, fand ich eine Mietwoh- nung, in der wir leider nur drei Monate bleiben konnten, da der Stadtteil zu einem sehr gefähr- lichen Ort geworden war. Den ganzen Tag gab es Zusammenstöße. Schließlich bat mir ein Freund sein Haus an, da er ins Ausland reisen wollte. Das Haus meines Freundes war recht groß und gemütlich, doch wir mussten auch von dort wieder weg. Dieses Mal wurden wir von der Polizei verjagt. Sie meinten, dass ich ihre Fragen nicht zufriedenstellend beantwortet hätte und somit nicht bleiben dürfe. Daraufhin mietete ich eine Wohnung in Al-Midan. Al-Mi- dan ist nicht vollkommen sicher, aber ich hatte keine Wahl, denn die Miete war recht günstig. Ein Haus in einem sicheren Stadtteil zu mieten kostet eine Menge Geld. Ich lebte etwa 2 Jahre in dieser Wohnung – 2 Jahre voller Angst und Schrecken. Der Tod lag in der Luft. Am 10. Juni 2015 wurde die Wohnung schwer beschädigt und unbewohnbar. Glücklicherweise waren meine Familie und ich nicht zu Hause, als die Rakete einschlug. Wir waren wenige Minuten zuvor erst aus dem Haus gegangen.
Es war dieser Moment, als ich begann darüber nachzudenken, Syrien zu verlassen. Doch um ins Ausland zu gehen, braucht man viel Geld, also ging ich zurück in mein Haus in Al-Neirab. Ich versuchte mich an das Leben dort zu gewöhnen, aber es gelang mir nicht. Ich war in dieser Zeit Lehrer an einer Oberschule namens Al-Kawakibi und gab nachmittags Nachhilfe. Wenn ich in meine Heimatstadt ginge, würde ich meinen Job verlieren. Ich hatte also die Wahl: entweder in Aleppo zu bleiben und Geld zu verdienen, aber unter ständiger Bedrohung unseres Lebens, oder in Al-Neirab zu leben, wo Armut, Unterdrückung und Misshandlungen allgegenwärtig waren. Hilf- und hoffnungslos, wie ich war, entschied ich mich, den Goldschmuck meiner Frau und mein gesamtes Eigentum zu verkaufen, um genug Geld für die Reise nach Europa zusam- menzukratzen, wo ich mir Sicherheit und eine bessere Zukunft für meine drei Kinder erhoffte: für Musaab, Mohamad und Tim. Doch zuerst musste ich meine 70-jährige Mutter überzeugen, mit uns zu kommen. Sie widersprach vehement und meinte, dass sie bereits in ihrer Kindheit ein Flüchtling gewesen sei und nicht vorhabe, als alte Frau wieder zu einem zu werden.
Es ist eine Katastrophe, zweimal im Leben zum Flüchtling zu werden, doch genau das passiert mit allen in Syrien lebenden Palästinensern.
Ich bin wirklich glücklich, dass meine ganze Familie endlich sicher in Österreich ist. Wir sind Österreich sehr zu Dank verpflichtet. Hier fühlen wir uns langsam zu Hause, haben viele freundliche und unkomplizierte Menschen getroffen und fühlen uns wieder sicher. Ich hoffe, mich so rasch wie möglich in diese Gesellschaft zu integrieren. Ich freue mich schon sehr darauf, hier arbeiten zu können.