Über 400 Berichte sind in diesen beiden Bänden gesammelt. Jeden dieser Berichte hat ein einzelner Mensch geschrieben. Mit einem Stift in einem Heft notiert. Jeder Text steht für einen Menschen. Jeder Mensch hat seine Geschichte. Jede Geschichte ist ein Zeugnis. Jede Geschichte beschreibt ein Leben. Jede Geschichte ist die eines Individuums. Weit und breit keine Flüchtlingswelle. Kein Flüchtlingsstrom. Keine Lawine. Kein Tsunami. Einfach einzigar- tige Menschen mit ihrer jeweils einzigartigen Geschichte.
Was es heißt, wegzugehen. Ein Vorwort von Susanne Scholl:
Jeder erlebt Emigration auf seine Weise. Flucht kann man wahrscheinlich nur auf eine Weise erleben. In meiner Familie war immer nur von Emigration die Rede. Meine Mutter war 22 Jahre alt, als sie Österreich verlassen musste. Die Nazis trachteten nach ihrem Leben, aber damals sahen das viele noch nicht. Ihr Vater hatte lediglich erklärt, die Jungen hätten hier keine Chance mehr, und sie gedrängt, das Land zu verlassen. Sie hatte das Glück gehabt, von Eng- land ein Visum als Dienstmädchen zu erhalten.
Sie empfand die Emigration gar nicht als solche. Sie war neugierig auf die große, weite Welt und froh, sich auf ein Abenteuer einlassen zu können. Sie wollte sehen, wie es anderswo war, wie man dort lebte, wie die Menschen dort waren. Und sie wollte dann zurückkehren, um ihrer Mutter von diesen neuen Eindrücken zu erzählen. Sie dachte nicht, dass es 8 Jahre dau- ern würde und dass man ihre Eltern in der Zwischenzeit ermordet haben würde.
Ihre Schwestern waren älter und wollten nicht gehen. Und empfanden es als Strafe, dass man sie weggeschickt hatte. Und haben sich von dieser Trauer nie so recht erholt. Sie fanden sich in dem fremden Land nicht zurecht und litten an unerträglichem Heimweh. Sie erlernten die fremde Sprache, in der sich meine Mutter sehr bald völlig frei bewegte, nur schlecht und fühlten sich zeit ihrer Emigration in der Fremde. Allerdings verging dieses Gefühl danach auch nicht mehr, als sie nach Österreich zurückkehrten. Denn die Erinnerung an die Vertreibung bleibt. Für immer. Und das Schlimmste an jeder Form der Emigration – sei sie wohlorganisiert oder eine überstürzte Flucht – ist der Verlust des Vertrauten. Wer geht, weil er gehen muss
– sei es, dass ihn Hunger und Not zwingen, sei es, dass er um sein Leben rennt –, wird das Vertraute auch dann nicht mehr wiederfinden können, wenn sich die Umstände ändern und er nach Hause zurückkehren kann. In ein Zuhause, das er aber nicht wiedererkennt, weil es sich inzwischen völlig verändert hat. Weil die Menschen sich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. Weil der Geflüchtete, der Emigrant, plötzlich zu einem wird, der es „ohnehin gut getroffen hat“ – während die Zurückgebliebenen ja so unglaublich gelitten haben. Er wird also, ob er will oder nicht, auch bei seiner Rückkehr zu einem Außenseiter, den man mit Misstrauen betrachtet. Weggehen ist also sehr schwierig – aber auch Zurückkommen ist Schwerstarbeit.
Als meine Eltern schließlich zurückkehren konnten in dieses Land, gab es mehrere große Hürden.
Zum einen das Misstrauen der Zurückgebliebenen und deren Angst, man könnte sie an ihre Mitschuld erinnern. Und zum anderen das unüberwindliche Schuldgefühl, überlebt zu haben. Überlebt zu haben, während man ihre Verwandten ermordet hatte. Wobei die Mörder ja nach wie vor da waren, unter uns lebten und gar nicht daran dachten, sich voller Scham und Schuld selbst zu bestrafen. Ganz im Gegenteil. Die Mörder behaupteten, nur ihre Pflicht getan zu haben.
Und dann kam sehr bald jene Zeit, in der es hieß: „Macht endlich einen Schlussstrich. Hört auf, ewig die Nazikeule zu schwingen. Lasst uns in Ruhe mit dieser Vergangenheit. Wir wollen nach vorne schauen …“
Nach vorne schauen. Als ob das für jene, die weggehen mussten, so einfach wäre.
Weggehen, ohne zu wissen, ob man zurückkommen kann, wann immer man will, ist eine unverdiente Strafe. Und alle, die jetzt hier, im sicheren Europa, so vollmundig erklären, die Geflüchteten mögen doch entweder zurückgehen oder gefälligst ihre Vergangenheit einfach begraben, vergessen und verdrängen, haben keine Ahnung, wovon sie da reden und was sie da verlangen.
Der Mensch ist schließlich die Summe seiner Erfahrungen. Jeder Mensch. Und diese Erfahrungen sind oft schmerzhaft und verletzend – aber sie sind da und können nicht einfach in einer Schublade abgelegt werden. Wer weggehen muss, braucht Hilfe, um den Schmerz, die Schuld und das Trauma seines Weggehens so weit unter Kontrolle bringen zu können, dass ein Leben möglich ist.
Davon ist hier die Rede. Vom Leben nach dem Überleben. Die hier ihre Lebensgeschichten erzählen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse ausbreiten, sind Menschen großen Mutes. Denn es bedarf dieses großen Mutes, um darüber zu schreiben, was dein Leben so sehr beeinträchtigt, so stark verändert, dass du dich kaum noch darin wiederfinden kannst.
Du verlierst alles, womit du zu leben gewohnt warst. Deine Sprache, Gerüche, den Geschmack der Speisen, die Menschen, die dein Leben ausmachen. Und dann kommst du hierher – und wir erwarten, dass du unsere Sprache, unsere Gerüche und den Geschmack unserer Speisen als die deinen annimmst. Dass du nicht weinst um deine zurückgelassenen Liebsten, um die Erinnerungen deiner Kindheit, um dein Leben vor der Flucht, der Emigration, dass du sprichst und lebst wie wir, als ob du keine Vergangenheit hättest …
Je älter ich werde, desto häufiger holt mich die Vergangenheit ein. Die Geschichte meiner vertriebenen Eltern, meiner ermordeten Großeltern. Ich schaue mich um in der Welt von heute und entdecke unglaubliche Parallelen. Parallelen, die mir Angst machen. Auch wenn ich in meinem Alter über die Angst des Lebens eigentlich längst hinaus bin.
Die Angst, die mich umtreibt, gilt jenen, die in dieser Welt weiterleben müssen. Jenen, die mit der Dummheit, der Niedertracht, dem Fehlen jeglichen Mitfühlens noch länger leben müs- sen. Dabei wäre es so einfach. Die Welt, die Menschen in „unsre“ und „fremde“ einteilt, sollte eigentlich längst tot und begraben sein. Denn schon lange sind wir alle ja nur noch eines: Men- schen, die auf dieser Welt so gut zu leben versuchen, wie es eben geht.
Dr. Susanne Scholl ist Journalistin und Autorin.