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WIR. HIER UND JETZT – Band I

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Erscheinungsdatum:

 27,50

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Über 400 Berich­te sind in die­sen bei­den Bän­den gesam­melt. Jeden die­ser Berich­te hat ein ein­zel­ner Mensch geschrie­ben. Mit einem Stift in einem Heft notiert. Jeder Text steht für einen Men­schen. Jeder Mensch hat sei­ne Geschich­te. Jede Geschich­te ist ein Zeug­nis. Jede Geschich­te beschreibt ein Leben. Jede Geschich­te ist die eines Indi­vi­du­ums. Weit und breit kei­ne Flücht­lings­wel­le. Kein Flücht­lings­strom. Kei­ne Lawi­ne. Kein Tsu­na­mi. Ein­fach ein­zi­gar- tige Men­schen mit ihrer jeweils ein­zig­ar­ti­gen Geschichte.

Was es heißt, weg­zu­ge­hen. Ein Vor­wort von Susan­ne Scholl:

Jeder erlebt Emi­gra­ti­on auf sei­ne Wei­se. Flucht kann man wahr­schein­lich nur auf eine Wei­se erle­ben. In mei­ner Fami­lie war immer nur von Emi­gra­ti­on die Rede. Mei­ne Mut­ter war 22 Jah­re alt, als sie Öster­reich ver­las­sen muss­te. Die Nazis trach­te­ten nach ihrem Leben, aber damals sahen das vie­le noch nicht. Ihr Vater hat­te ledig­lich erklärt, die Jun­gen hät­ten hier kei­ne Chan­ce mehr, und sie gedrängt, das Land zu ver­las­sen. Sie hat­te das Glück gehabt, von Eng- land ein Visum als Dienst­mäd­chen zu erhalten.

Sie emp­fand die Emi­gra­ti­on gar nicht als sol­che. Sie war neu­gie­rig auf die gro­ße, wei­te Welt und froh, sich auf ein Aben­teu­er ein­las­sen zu kön­nen. Sie woll­te sehen, wie es anders­wo war, wie man dort leb­te, wie die Men­schen dort waren. Und sie woll­te dann zurück­keh­ren, um ihrer Mut­ter von die­sen neu­en Ein­drü­cken zu erzäh­len. Sie dach­te nicht, dass es 8 Jah­re dau- ern wür­de und dass man ihre Eltern in der Zwi­schen­zeit ermor­det haben würde.

Ihre Schwes­tern waren älter und woll­ten nicht gehen. Und emp­fan­den es als Stra­fe, dass man sie weg­ge­schickt hat­te. Und haben sich von die­ser Trau­er nie so recht erholt. Sie fan­den sich in dem frem­den Land nicht zurecht und lit­ten an uner­träg­li­chem Heim­weh. Sie erlern­ten die frem­de Spra­che, in der sich mei­ne Mut­ter sehr bald völ­lig frei beweg­te, nur schlecht und fühl­ten sich zeit ihrer Emi­gra­ti­on in der Frem­de. Aller­dings ver­ging die­ses Gefühl danach auch nicht mehr, als sie nach Öster­reich zurück­kehr­ten. Denn die Erin­ne­rung an die Ver­trei­bung bleibt. Für immer. Und das Schlimms­te an jeder Form der Emi­gra­ti­on – sei sie wohl­or­ga­ni­siert oder eine über­stürz­te Flucht – ist der Ver­lust des Ver­trau­ten. Wer geht, weil er gehen muss
– sei es, dass ihn Hun­ger und Not zwin­gen, sei es, dass er um sein Leben rennt –, wird das Ver­trau­te auch dann nicht mehr wie­der­fin­den kön­nen, wenn sich die Umstän­de ändern und er nach Hau­se zurück­keh­ren kann. In ein Zuhau­se, das er aber nicht wie­der­erkennt, weil es sich inzwi­schen völ­lig ver­än­dert hat. Weil die Men­schen sich bis zur Unkennt­lich­keit ver­än­dert haben. Weil der Geflüch­te­te, der Emi­grant, plötz­lich zu einem wird, der es „ohne­hin gut getrof­fen hat“ – wäh­rend die Zurück­ge­blie­be­nen ja so unglaub­lich gelit­ten haben. Er wird also, ob er will oder nicht, auch bei sei­ner Rück­kehr zu einem Außen­sei­ter, den man mit Miss­trau­en betrach­tet. Weg­ge­hen ist also sehr schwie­rig – aber auch Zurück­kom­men ist Schwerstarbeit.

Als mei­ne Eltern schließ­lich zurück­keh­ren konn­ten in die­ses Land, gab es meh­re­re gro­ße Hürden.

Zum einen das Miss­trau­en der Zurück­ge­blie­be­nen und deren Angst, man könn­te sie an ihre Mit­schuld erin­nern. Und zum ande­ren das unüber­wind­li­che Schuld­ge­fühl, über­lebt zu haben. Über­lebt zu haben, wäh­rend man ihre Ver­wand­ten ermor­det hat­te. Wobei die Mör­der ja nach wie vor da waren, unter uns leb­ten und gar nicht dar­an dach­ten, sich vol­ler Scham und Schuld selbst zu bestra­fen. Ganz im Gegen­teil. Die Mör­der behaup­te­ten, nur ihre Pflicht getan zu haben.

Und dann kam sehr bald jene Zeit, in der es hieß: „Macht end­lich einen Schluss­strich. Hört auf, ewig die Nazi­keu­le zu schwin­gen. Lasst uns in Ruhe mit die­ser Ver­gan­gen­heit. Wir wol­len nach vor­ne schauen …“

Nach vor­ne schau­en. Als ob das für jene, die weg­ge­hen muss­ten, so ein­fach wäre.

Weg­ge­hen, ohne zu wis­sen, ob man zurück­kom­men kann, wann immer man will, ist eine unver­dien­te Stra­fe. Und alle, die jetzt hier, im siche­ren Euro­pa, so voll­mun­dig erklä­ren, die Geflüch­te­ten mögen doch ent­we­der zurück­ge­hen oder gefäl­ligst ihre Ver­gan­gen­heit ein­fach begra­ben, ver­ges­sen und ver­drän­gen, haben kei­ne Ahnung, wovon sie da reden und was sie da verlangen.

Der Mensch ist schließ­lich die Sum­me sei­ner Erfah­run­gen. Jeder Mensch. Und die­se Erfah­run­gen sind oft schmerz­haft und ver­let­zend – aber sie sind da und kön­nen nicht ein­fach in einer Schub­la­de abge­legt wer­den. Wer weg­ge­hen muss, braucht Hil­fe, um den Schmerz, die Schuld und das Trau­ma sei­nes Weg­ge­hens so weit unter Kon­trol­le brin­gen zu kön­nen, dass ein Leben mög­lich ist.

Davon ist hier die Rede. Vom Leben nach dem Über­le­ben. Die hier ihre Lebens­ge­schich­ten erzäh­len, ihre Erfah­run­gen und Erleb­nis­se aus­brei­ten, sind Men­schen gro­ßen Mutes. Denn es bedarf die­ses gro­ßen Mutes, um dar­über zu schrei­ben, was dein Leben so sehr beein­träch­tigt, so stark ver­än­dert, dass du dich kaum noch dar­in wie­der­fin­den kannst.

Du ver­lierst alles, womit du zu leben gewohnt warst. Dei­ne Spra­che, Gerü­che, den Geschmack der Spei­sen, die Men­schen, die dein Leben aus­ma­chen. Und dann kommst du hier­her – und wir erwar­ten, dass du unse­re Spra­che, unse­re Gerü­che und den Geschmack unse­rer Spei­sen als die dei­nen annimmst. Dass du nicht weinst um dei­ne zurück­ge­las­se­nen Liebs­ten, um die Erin­ne­run­gen dei­ner Kind­heit, um dein Leben vor der Flucht, der Emi­gra­ti­on, dass du sprichst und lebst wie wir, als ob du kei­ne Ver­gan­gen­heit hättest …

Je älter ich wer­de, des­to häu­fi­ger holt mich die Ver­gan­gen­heit ein. Die Geschich­te mei­ner ver­trie­be­nen Eltern, mei­ner ermor­de­ten Groß­el­tern. Ich schaue mich um in der Welt von heu­te und ent­de­cke unglaub­li­che Par­al­le­len. Par­al­le­len, die mir Angst machen. Auch wenn ich in mei­nem Alter über die Angst des Lebens eigent­lich längst hin­aus bin.

Die Angst, die mich umtreibt, gilt jenen, die in die­ser Welt wei­ter­le­ben müs­sen. Jenen, die mit der Dumm­heit, der Nie­der­tracht, dem Feh­len jeg­li­chen Mit­füh­lens noch län­ger leben müs- sen. Dabei wäre es so ein­fach. Die Welt, die Men­schen in „uns­re“ und „frem­de“ ein­teilt, soll­te eigent­lich längst tot und begra­ben sein. Denn schon lan­ge sind wir alle ja nur noch eines: Men- schen, die auf die­ser Welt so gut zu leben ver­su­chen, wie es eben geht.

Dr. Susan­ne Scholl ist Jour­na­lis­tin und Autorin. 

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