Rund eine Million Menschen in Österreich sind heute zwischen 14 und 24 Jahre alt. Eine Million Menschen, die unser Land und Europa Jahr für Jahr sichtbarer prägen werden – mit ihren Aktivitäten und Leistungen, aber auch mit ihren Sprachen, mit ihrer Herkunft, mit ihren Geschichten und bald durch ihre Kinder. Eine Million Menschen mit mehr oder weniger komplexen Biografien sind eine Million Individuen, von denen wir jedenfalls zu wenig wissen. Die hier vorgelegten Berichte mögen dazu beitragen, diese kollektive Bildungslücke zu schließen.
Ein Kaleidoskop der Vielfalt. Ein Vorwort von Heidi Schrodt
Meine Kindheit verbrachte ich in einer niederösterreichischen Kleinstadt an der Donau. In den 1950er-Jahren war dort alles noch so, wie es immer gewesen war, zumindest was alte Ord- nungen betrifft. Die Gesellschaft dieser Provinzstadt war ständisch geprägt. Da gab es die Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter, die in den drei lokalen Fabriken arbeiteten und deren Kinder meist den zweiten Klassenzug der Hauptschule besuchten, um ebenfalls einmal Hilfs- arbeiterinnen und Hilfsarbeiter zu werden. Dann die Geschäftsleute, deren Kinder meist den ersten Klassenzug der Hauptschule besuchten, um dann einen Lehrberuf zu erlernen und die elterlichen Betriebe zu übernehmen. Schließlich waren da noch die Akademiker – Ärzte, Rechtsanwälte, der Apotheker –, und deren Kinder zählten zur kleinen Minderheit derjenigen, die ein Gymnasium besuchten. Die Kinder und Jugendlichen meiner Kindheit wuchsen also meist in getrennten sozialen Welten auf und hatten doch eines gemeinsam: Deutsch als Mutter- sprache. Ich erinnere mich an einen einzigen Ausländer aus dieser Zeit, einen Mann namens Jaro, der mit einer Frau aus dem Ort zusammenlebte, sich mit Gelegenheitsarbeiten sein Geld verdiente und dessen Deutsch durch einen ausgeprägt tschechischen Akzent auffiel.
Ein halbes Jahrhundert später hat in derselben Kleinstadt fast ein Fünftel der Bevölkerung sogenannten Migrationshintergrund. Auch die österreichische Provinz ist inzwischen also in der Migrationsgesellschaft gelandet. Wenn man die „zweite Generation“ dazurechnet, hat in der Hauptstadt Wien mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund, unter den Kindern und Jugendlichen macht das, in dieser Berechnung, fast 70 Prozent aus. Wien liegt mit dieser Entwicklung im Trend und kann mit Fug und Recht als internationale Stadt bezeichnet werden.
Wenn wir uns also die demographischen Zahlen ansehen, müssten wir annehmen, dass sich unsere Schulen auf dem Hintergrund dieser Veränderungen auch grundlegend gewandelt haben. Schließlich verlangt eine heterogene, mehrsprachige Schülerschaft in einer trans- nationalen, sich stets in Bewegung befindenden Gesellschaft ein Schulsystem, das diesen veränderten Ausgangsbedingungen Rechnung trägt, mit Mehrsprachigkeit und Diversität umgehen kann. Die Heterogenität in den Klassenzimmern stellt ja heute die Regel und nicht die Ausnahme dar, und migrantische Kinder und Jugendliche sind in unseren Schulen längst Realität. Doch hat das österreichische Schulsystem auf die veränderten Ausgangsbedingungen bestenfalls mit Partikular- oder Reparaturmaßnahmen reagiert. Man kann sagen, es ist in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hängen geblieben. Nach wie vor ist die Schule in ihren Grundzügen ständisch organisiert, wie in den 50er-Jahren meiner Kindheit: Mit zehn Jahren erfolgt die Trennung in Hauptschulen/Neue Mittelschulen und in die als höherwertig angesehenen Gymnasien, zu deren strengen Zugangsbedingungen auch gute Deutschkenntnisse zählen. Wer über diese aufgrund seiner familiären Herkunft nicht verfügt, hat Pech gehabt bei uns. Pech hat auch, wer in eine Familie hineingeboren wird, die ökonomisch schlecht gestellt ist. Wenn diese darüber hinaus auch noch zu denen zählt, die man als „bildungsfern“ bezeichnet, dann sind die Chancen ihrer Kinder auf eine höhere Bildung statistisch gesehen sehr schlecht. Nicht der sogenannte Migrationshintergrund ist es nämlich, der bei uns zu Benach- teiligung in der Schule führt, sondern die Kombination dieses Faktors mit Bildungsferne und Armut im Elternhaus. Da in Österreich der Anteil von Zuwanderern mit niedrigem Bildungsgrad und aus sozioökonomisch schwachem Hintergrund im internationalen Vergleich sehr hoch ist, haben es Kinder aus solchen Familien besonders schwer. Unser Schulsystem verhält sich noch immer so, als wären wir in einer monolingualen, kulturell homogenen Gesellschaft. Alle Maßnahmen, die auf die veränderte Situation reagieren, sind als Reparaturmaßnahmen dazugekommen, eine grundlegende Reform hat nie stattgefunden. Besonders hart trifft es übrigens die Kinder und Jugendlichen, die neu ankommen. Für sie ist wenig bis gar nichts vor- gesehen, und mit dem Ende der Schulpflicht ist es dann aus mit ihrer Bildung. Es versteht sich von selbst, dass man in ein, zwei Jahren nicht ausreichend Deutsch lernen kann, um einen Schulabschluss zu schaffen. Aber unsere Schule hat keine Vorkehrungen getroffen, um auch diesen Jugendlichen gerecht zu werden, etwa mit der Einführung des Rechts auf kostenlosen Schulbesuch bis 18.
Das Projekt „WIR. BERICHTE AUS DEM NEUEN OE“ ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Man geht in Schulklassen und lässt Jugendliche schreiben – über sich, ihre Familie, ihre Her- kunft, ihre Sorgen. Großartige Dokumente sind im Laufe des Projekts entstanden. Sie künden von pubertären Nöten ebenso wie von erster Liebe, Trennung und Scheidung der Eltern, Verlusterfahrungen oder traumatischen Erlebnissen wie Flucht oder Kriegserlebnissen. Kommentarlos aneinandergereiht, unter Beibehaltung der sprachlichen Eigenheiten der jungen Verfasserinnen und Verfasser ergeben diese Berichte für die Leserin ein faszinierendes Kalei- doskop der vielfältigen Zusammensetzung der Klassenzimmer unserer Schulen heute. Was in der Schulpolitik noch nicht rezipiert wurde, hier wird es sichtbar: Die von Diversität geprägte Gesellschaft ist in Österreich die Norm, nicht die Ausnahme. Die Frage nach dem sogenannten Migrationshintergrund stellt sich im Buch gar nicht. Und das ist gut so. Es liegt am Zugang, der in dem Projekt gewählt wurde: Konsequent und radikal wird aus der Perspektive der Jugend- lichen berichtet. Und so werden die Personen, die Persönlichkeiten greifbar; die Frage, woher sie kommen und wie lange sie schon im Lande sind, ob ihre Erstsprache Deutsch ist oder auch nicht, all das spielt zwar im Leben dieser Jugendlichen eine große Rolle, ist aber im Kontext des Buchs nebensächlich. Nebensächlich im Sinne von Kategorisierungen und Schub- ladisierungen. Hier ist der junge Mensch nicht Objekt von Untersuchungen, sondern rückt als Subjekt ins Zentrum des Leserinteresses. Interessant ist, dass die Frage der Identität zwar für die porträtierten Jugendlichen sehr wichtig ist, aber in erster Linie im Zusammenhang mit dem Erwachsenwerden, weniger hingegen mit ihrer Herkunft. Mit ihren Mehrfachidentitäten kommen die meisten gut zurecht, scheint es. Sie fühlen sich ihrem Wohnbezirk verbunden und lieben die Stadt, in der sie leben. Besonders trifft das übrigens auf die jungen Wienerinnen und Wiener zu.
Der Buchreihe wünsche ich ein großes Echo und zahlreiche Leserinnen und Leser. Das Projekt leistet einen wertvollen Beitrag zur Normalisierung des Migrationsdiskurses. Vielleicht kommt die Zeit, in der unsere neuen Österreicherinnen und Österreicher nicht mehr nach ihrem Migrationshintergrund gefragt werden – weil es nicht mehr nötig ist. Es wäre eine schöne Perspektive.
Mag. Heidi Schrodt war Direktorin am Gymnasium Rahlgasse und hat sich zuletzt mit dem Buch „Sehr gut oder Nicht genügend?“ zum Thema „Schule und Migration in Österreich“ zu Wort gemeldet.