Die Schule? Öd! Das Bildungssystem? Vorgestrig! Die Wirtschaft? In der Dauerkrise! Karriere? Vielleicht. Politik? Geh bitte! Der Bausparvertrag? Auch nicht mehr, was er einmal war! Die Familie? Ja, aber. Vergangenheit? Vorbei! Zukunft? Ungewiss!
Würden Jugendliche sich in ihrer Orientierungssuche auf jene verstaubten Sinnstiftungs- instanzen beschränken, die das Leben ihrer Eltern prägen, wären sie wohl schnell verloren. Es steht daher zu vermuten, dass sie sich – wie ungezählte Generationen vor ihnen – auf ein ganz eigenes Hier und Heute konzentrieren. Auf ihr Leben also. Auf ihre Gegenwart.
Genau davon – wie sich dieses Leben ihnen selbst darstellt – erzählen sie in der Reihe „WIR. BERICHTE AUS DEM NEUEN OESTERREICH“.
Affen im Winter. Über das Erzählen unserer Geschichten.
Ein Vorwort von Paulus Hochgatterer
Die Sache mit dem Buben, der das Fremde in mein Leben brachte, ist durch ein Foto abgesichert – angeblich passiert es auch heute noch nach dem gleichen Muster. Die Klassenlehrerin sagt: „Kinder, morgen kommt der Fotograf“, und die Mütter werden tätig. Die Garderobe wird durchforstet, der Friseur tritt in Aktion, und das Ergebnis des Zähneputzens wird kontrolliert. Am nächsten Vormittag werden zwei Fotos angefertigt, eins vom Kind, allein mit seinen Schulsachen, und eins von der ganzen Klasse.
Ich sitze auf dem Foto aus meiner ersten Volksschulklasse in der zweiten Reihe, in einer graugrünen Strickjoppe mit Silberknöpfen. Links neben mir, dunkelblond und schmalgesichtig, in einem ockerfarbenen Hemd, das ihm sichtlich zu groß ist, sitzt Peter. An der Rückwand der Klasse hängen eine Landkarte des Bezirkes Melk, eine Rolltafel mit der damaligen Version der österreichischen Schulschrift und ein großer Bogen Packpapier mit einigen Sätzen. „Der Frühling ist da“, kann man lesen. „Die Vögel singen. Die Bäume blühen. Der Bauer pflügt das Feld.“ Die korrekte Position der Striche auf den Umlauten war unserer Lehrerin sehr wichtig, daran kann ich mich erinnern. An der rechten Seitenwand, oberhalb der Tür, ist das Porträt des Bundespräsidenten zu erkennen. Franz Jonas – er habe Schriftsetzer gelernt, hatte mir mein Vater gesagt, und ich stellte mir unter einem Schriftsetzer jemanden vor, der bestimmte, wie man die Buchstaben zu schreiben habe.
Peter, von dem ich nicht weiß, ob er tatsächlich Peter hieß, ging knappe zwei Monate in unsere Klasse, von April bis Juni. Plötzlich war er da, und ebenso plötzlich war er wieder weg, das eine wie das andere ohne Ankündigung. Dazwischen wohnte er auf einem geschotterten Platz in der Au, der sonst als Holzlagerplatz diente, in einem Wagen auf Rädern, der aussah, als gehöre er zu einem Zirkus. Er zeichnete Strichmännchen ohne Schuhe und ohne Kleider, schreiben und rechnen schien er gar nicht zu können, dafür kam er an der Kletterstange im Turnsaal bis ganz hinauf. Insgesamt sprach er wenig, nur in den Heimatkundestunden erzählte er immer wieder unvermittelt seltsame Dinge, vom Feuermachen, von Spanien und vom Meer. Unsere Lehrerin ließ ihn gewähren und meinte, er habe offenbar eine lebhafte Phantasie, und als ich meine Mutter einmal fragte, ob ich nach der Schule mit ihm gehen dürfe, sagte sie, das komme gar nicht in Frage. „Das sind Scherenschleifer“, sagte sie, „bei denen muss man auf- passen.“ Als ich ihm das sagte, schwieg er zuerst; schließlich sagte er, sein Onkel schleife auch die großen Messer, die man Schweinen in den Hals steche, und außerdem sei er in Spanien gewesen und dort habe er Affen gesehen, so richtig große, mit einem Pelz, mit dem sie auch durch den Winter kämen. Meine Mutter sagte, da könne ich es sehen, schon bei den Kindern von den Scherenschleifern müsse man aufpassen; Affen gebe es nämlich weder in Spanien noch im Winter.
Kein Kind aus meiner Volksschulzeit ist mir so in Erinnerung geblieben wie dieser Bub, und die von meiner Umgebung induzierte Scherenschleifer-Angst, die er durch die Geschichte vom Schlachtermesser noch größer machte, mag dabei genauso eine Rolle gespielt haben wie die Faszination, die von seinen sparsamen Reiseerzählungen ausging. Aus heutiger Sicht hat er mir, dem damals knapp Siebenjährigen, auf einer unbewussten Ebene jene Fragen eingepflanzt, die mich heute immer noch interessieren:
Was ist es eigentlich, das wir Heimat oder Zuhause nennen? Definiert es sich durch Fundamente aus Beton, Wände aus Ziegeln und sturmfeste Dächer, oder kann es auch an einen seltsamen zweiachsigen Wagen, der von einem kleinen Bedford-Laster gezogen wird, gebunden sein? Ist Heimat dort, wo ich mich zumindest ein paar Jahre aufhalte, zum Beispiel eine Volksschulzeit lang? Bin ich nur dort zu Hause, wo ich den Bundespräsidenten kenne und die Schulschrift richtig schreiben kann?
Vermutlich ist damals eine erste Ahnung von der Paradoxie des Unterwegsseins in mir entstanden; davon, dass man sich, wenn man alle paar Monate umzieht, Freiheit und die Sicherheit, ständig Neues zu erleben, dadurch erkauft, dass man auf viele Beziehungen, Freundschaften zum Beispiel, verzichten muss. Vermutlich habe ich damals schon gespürt, dass ein Bezirk, dessen Grenzen man auf einer Landkarte mit dem Finger nachzeichnen und von dem man sagen kann: „Das ist meiner“, zwar etwas Abstraktes, aber trotzdem etwas ist, das einem Halt gibt. Vermutlich habe ich gespürt, dass die Erfahrung, dass einen keiner nach Hause begleiten darf, weil dieses Zuhause eine fragwürdige Angelegenheit zu sein scheint, für einen Menschen ziemlich traurig sein muss.
Mit Sicherheit freilich habe ich andererseits gespürt, dass es da etwas gibt, das stärker ist als Traurigkeit und Verzicht, stärker als die Skepsis der Lehrer und stärker als das Misstrauen unserer Mütter und Väter, etwas, das mit den Geschichten zu tun hatte, die dieser Bub erzählte. Schlachtermesser. Spanien. Affen im Winter.
Indem wir anderen unsere Geschichten erzählen, erzählen wir uns selbst herbei. So war es bei Peter, und so ist es bei uns allen. Der Mensch ist ein narratives Wesen, von Anfang an. Unsere Beziehungen leben davon, dass wir einander Geschichten erzählen. Täglich erzählen wir uns das neu, was wir gewohnt sind, ein wenig großspurig „Identität“ zu nennen. Gerade Kinder und Jugendliche tun das, heute zum Teil mit anderen Mitteln als wir vor vierzig Jahren, zum Teil allerdings noch genau so. Es ihnen systematisch zu ermöglichen, wie es „WIR. BERICHTE AUS DEM NEUEN OESTERREICH“ tut, bedeutet, sie darin zu ermutigen, zu sagen: „Das bin ich“, auch wenn sie vielleicht erst zwei Monate da sind, schlecht rechnen können oder in einem Wagen wohnen, der aussieht, als gehöre er zu einem Zirkus.
Dr. Paulus Hochgatterer ist Kinder- und Jugendpsychiater und Schriftsteller.